Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
vielleicht war ihr ja gar nichts geblieben, was sie hätte verlieren können, dachte Anna.
Sie fasste einen Entschluss. Sie würde es Gillian heute sagen, heute Nachmittag. Einen Moment zog sie in Erwägung, mit »Es war einmal« zu beginnen, aber sie wusste, dass ihre Geschichte kein Märchen und sie mit Sicherheit keine Prinzessin gewesen war.
Als ihr Gast mit zwei Gläsern Limonade auf die Veranda trat, holte Anna Luft und sagte: »Wird Edoardo in diesem Sommer noch einmal herkommen?«
Gillian setzte das Tablett zwischen ihnen beiden ab. Sie setzte sich hin und nahm erst das Glas in die Hand, bevor sie antwortete. »Ich glaube nicht. Sweetheart war nicht so ganz seine Kragenweite.«
»Schade. Er schien ein so netter Mann zu sein.«
»Er ist ein netter Mann.«
»Man konnte sich mit ihm auch gut unterhalten.« Anna lachte plötzlich über ihre eigene Durchschaubarkeit und die Überreste ihrer Eitelkeit. »Er wusste ja bestens über meine Karriere als Konzertpianistin Bescheid und besaß in seiner Sammlung alle Platten von mir, selbst die ganz frühen und sehr seltenen; er betrachtete mich als Ikone und lag mir geradezu zu Füßen.«
Gillian verzog den Mund zu einem Lächeln. »Eine kleine Heldenverehrung hat wohl noch niemandem geschadet.«
Anna schaukelte vor und zurück. Das Alter hatte auch seine Vorzüge. Das hatte sie inzwischen entdeckt. Man konnte mit indiskreten und unpassenden Fragen kommen und bekam dafür einfach nur das Etikett, etwas exzentrisch oder ein bisschen schrullig zu sein. »Läuft da etwas zwischen dir und Edoardo Biaggi?«
»Bis vor kurzem dachte ich noch, da könnte etwas sein.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Zumindest vorläufig nicht.«
»Würde er denn gerne wollen?«
Gillians Antwort war knapp und kurz. »Ja.«
Anna nippte an ihrer Limonade; sie war kalt und schmeckte säuerlich herb. »Er scheint perfekt zu dir zu passen.«
Gillian presste die schönen Lippen fest zusammen. »Zumindest auf dem Papier.«
»Nur auf dem Papier?«
Die zarten Schultern unter einer aufwendig maßgeschneiderten ägyptischen Baumwollbluse deuteten ein Achselzucken an. »Edoardo müsste eigentlich der perfekte Mann für mich sein. Er hat alles, was ich an einem Mann schätze und was ich mir von ihm wünsche. Wir wuchsen beide unter ähnlichen, privilegierten Umständen auf. Wir haben immer in derselben Welt gelebt, kannten dieselben Leute. Wir verreisten mit denselben Kreisen und an dieselben Orte. Wir liebten dieselben Dinge.«
»Vor allem, was die Musik anbetraf?«
Gillian nickte.
Anna spürte das Zögern ihres Gastes. »Aber …?«
Es dauerte einen Moment, ehe Gillian nachdenklich sagte: »Irgendetwas fehlt.«
»Weißt du, was es ist?«
Gillian nickte heftig, sodass ihr Pferdeschwanz auf und ab gegen ihren Kragen wippte und ein paar feuchte Strähnen ihres blonden Haars am Nacken kleben blieben. »Leidenschaft.«
Anna stellte ihr Glas Limonade wieder auf dem Rattantisch neben ihrem Ellbogen ab. »Verstehe.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es erklären kann, aber ich finde Edoardo so vorhersehbar. Es ist so, als wüsste ich im Voraus, was er sagen wird, was er tun wird, sogar was er gerade denkt und fühlt.« Sie holte plötzlich zu einer nachdrücklichen Handbewegung aus. »Bei Edoardo gibt es keine Herausforderungen und keine Überraschungen.«
Und folglich auch keine Leidenschaft.
Anna musste gestehen, dass sie als junge Frau von ähnlichem Temperament gewesen war. Sogar in der High School hätte sie die Jungen aus der Stadt ohne jede Anstrengung um den kleinen Finger wickeln können. Sie waren ihr vertraut, zu vertraut, absolut vorhersehbar und äußerst langweilig. Es war Jacob, den sie attraktiv fand, der sie fasziniert und in seinen Bann gezogen hatte.
»Das Vorhersehbare wird schnell langweilig«, sagte Anna und griff wieder zu ihrem Glas.
»Genau.«
»Ich erinnere mich noch an einen längst verflossenen Beau von mir.« Anna lachte bei der Erinnerung und hätte dabei beinahe etwas Limonade verschüttet. »Ich nannte ihn Kaugummi-Boy.«
Die junge Frau fiel in ihr Gelächter mit ein. »Kaugummi-Boy?«
Anna genoss es sichtlich, die Geschichte zu erzählen. »Ich begegnete Adam in dem Sommer, als ich siebzehn wurde. Er war schön. Er war das schönste menschliche Wesen, das ich je gesehen habe. Auch später ist mir nie mehr ein so schöner Mensch begegnet. Er war groß und athletisch. Seine Gesichtszüge waren wie aus Carrara-Marmor gemeißelt. Er hatte blonde, glänzende
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