Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
Tuch, schwarze Designer-Sonnenbrille, schwarzer Blazer, schwarzer schmaler Rock – hübsche Beine -, schwarze Lederhandtasche und schwarze Slingpumps – ohne Zweifel teuer und italienisch.
Sie schob die Sonnenbrille auf den Scheitel hoch und sah sich einen Moment auf dem Platz um. Dann drehte sie sich um und starrte an dem bescheidenen zweistöckigen Ziegelbau aus der Jahrhundertwende, der sein Büro beherbergte, empor.
»Das scheint Ms. Charles zu sein«, murmelte Sam vor sich hin.
Kapitel 4
Er sah definitiv nach Ärger aus.
Samuel P. Law, Rechtsanwalt – so war in unaufdringlichen Lettern auf der Eingangsglastür im Parterre zu lesen -, stand hinter einem überdimensionalen antiken Schreibtisch mit dem Rücken zu einer Reihe bodentiefer Fenster. Hinter ihm erkannte man das Bezirksgerichtsgebäude und den Marktplatz, die sich wie ein gerahmtes Hintergrundbild ausnahmen.
Er trug jetzt keine Freizeitjeans mit Denimhemd wie auf der Fotografie, die sie auf der Fahrt vom Flughafen hierher studiert hatte. Er hatte einen leicht verknitterten grauen Nadelstreifenanzug an, ein weißes Oberhemd – ebenfalls etwas verknittert – und eine, wie Gillian sofort sah, Jerry-Garcia-Krawatte, die mit hellroten und grünen Chilischoten gemustert war.
Dieser Kleinstadtanwalt aus dem Mittleren Westen war sicher kein Hohlkopf, dachte sie, als sie im Eingang des Büros stehen blieb.
Nicht dass die Welt nicht voller Überraschungen war. Sie hatte schon seltsamere Dinge erlebt. Einmal war sie zu Gast bei einem exzentrischen italienischen Aristokraten, der darauf bestanden hatte, das ganze Jahr barfuß zu gehen. Er trug wild gemusterte Hemden mit Blumenmuster, trank Margaritas und hörte ausschließlich Musik von Jimmy Buffet. Seine Freunde wie Feinde sprachen von ihm nur als dem Prinzen Papagei.
»Entschuldigung …« Sie wartete, bis sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher war. »Sind Sie Samuel Law?«
Gillian kannte bereits die Antwort auf ihre Frage. Da gab es kein Vertun – dieses Gesicht, diese Schultern – der Atem staute sich in ihrer Lunge -, dieser Körper.
Samuel Law verzog keine Miene. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Krawatte zu richten. »Das bin ich.«
Sie ging einen weiteren Schritt auf ihn zu und versuchte, nicht unverbindlich zu wirken. »Ich bin Gillian Charles.«
Er kam um den Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich habe Sie schon erwartet, Ms. Charles.«
Sein Händedruck war kräftig, fest, resolut, absolut sachlich. Gillian hatte das Gefühl, dass ihrem neu bestellten Anwalt Dummheit oder Ähnliches ein Gräuel wäre.
Hinter ihm legte sich langsam die Abenddämmerung auf Sweetheart. Der Himmel war mit leuchtenden Rosa- und kräftigen Violetttönen übertüncht, von blauen Streifen durchzogen, die von der Tönung eines Rotkehlcheneis bis zu Marineblau changierten.
Ein Scheinwerfer nach dem anderen flammte auf und erleuchtete das Kalksteingebäude und die Marmorstatue der Justitia, die über dem Portikus des Justizgebäudes thronte. Die Skulptur war in der klassischen Pose dargestellt: eine Binde über den Augen, ein zweischneidiges Schwert in der einen Hand und die Waage der Gerechtigkeit in der anderen.
Gillian platzte mit dem ersten halbwegs zusammenhängenden Satz heraus, der ihr in den Sinn kam: »Sie haben eine hübsche Aussicht.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Sam, ohne sich umzudrehen.
»Und sie passt auch.«
»Das hat man mir auch schon gesagt.«
»Ich nehme an, das ist kein Zufall.«
Er machte eine Bewegung mit dem Kopf, die kein eindeutiges Ja oder Nein erkennen ließ. »In diesem Gebäude war schon immer eine Kanzlei.«
»Dann ist es also Tradition.«
»Eigentlich glaube ich, dass es mehr eine Sache der Bequemlichkeit ist. Das Gericht und das Bagley Building wurden 1903 gleichzeitig erbaut.«
»Wenn ich richtig verstehe, ist dies also das Bagley Building.«
Er nickte. »Ursprünglich war es Lyle Bagleys Büro. Anschließend übernahm es sein Sohn und dann sein Enkel.«
Die Familie sagte ihr gar nichts.
»Lyle Bagley war Anwalt in Sweetheart, als das Gericht gebaut wurde. Sein Sohn praktizierte in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg als Anwalt. Bert war der Enkel. Er übernahm die Kanzlei, als sein Vater in den Ruhestand ging. Bert Bagley war fünfzig Jahre, eher noch sechzig Jahre lang der Anwalt Nummer eins in dieser Kommune. Er war auch sein Leben lang ein Freund meiner Familie. Jedenfalls starb er einige Monate, bevor ich in die Stadt
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