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Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Titel: Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roald Dahl
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ist es!», rief sie. «Ich hab’s gefunden! Oje, und nun sucht er da oben alles durch! Chauffeur, rasch – laufen Sie hinein und rufen Sie ihn, wenn Sie so gut sein wollen!»
    Dem Chauffeur, einem Mann mit einem trotzigen, schmallippigen irischen Mund, passte das alles nicht recht, aber er stieg aus und ging die Stufen zur Haustür hinauf. Gleich darauf kam er zurück: «Die Tür ist zu», sagte er. «Haben Sie den Schlüssel?»
    «Ja, einen Moment …» Sie kramte wild in ihrer Handtasche. Ihr kleines Gesicht war vor Angst verzerrt, der Mund krampfhaft zusammengepresst.
    «Hier! Nein – ich gehe selbst. Das ist besser. Ich weiß, wo er ist.»
    Sie sprang aus dem Wagen und eilte die Stufen hinauf, den Schlüssel in der Hand. Schon hatte sie ihn ins Schlüsselloch gesteckt, war im Begriff, ihn zu drehen – da hielt sie inne. Sie hob den Kopf und stand vollständig regungslos, wie erstarrt inmitten all der Hast, die Tür zu öffnen und das Haus zu betreten. Sie wartete – fünf Sekunden, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Wie sie da stand, mit erhobenem Kopf und angespanntem Körper, schien sie zu lauschen, ob sich ein Laut wiederholen werde, den sie soeben aus dem Innern des Hauses gehört hatte.
    Ja, sie lauschte – das war offensichtlich. Ihre ganze Haltung drückte Lauschen aus. Man sah förmlich, wie sie ihr Ohr immer näher an die Tür brachte. Nun lag es unmittelbar an dem Holz, und sekundenlang behielt sie diese Stellung bei: den Kopf erhoben, das Ohr an der Tür, den Schlüssel in der Hand, bereit einzutreten, aber doch nicht eintretend und stattdessen offenbar bemüht, die schwachen Laute zu analysieren, die aus dem Innern des Hauses drangen.
    Auf einmal kam wieder Leben in Mrs.   Foster. Sie zog den Schlüssel aus der Tür, machte kehrt und rannte zum Wagen zurück.
    «Es ist zu spät!», rief sie dem Chauffeur zu. «Ich kann nicht auf ihn warten, ich kann einfach nicht, weil ich sonst das Flugzeug versäume. Fahren Sie, Chauffeur, rasch! Zum Flugplatz!»
    Hätte der Mann sie genau betrachtet, so wäre ihm zweifellos aufgefallen, dass sie kreidebleich geworden war und dass sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich verändert hatte. Keine Spur mehr von ihrem sanften, ziemlich einfältigen Blick. Eine merkwürdige Härte hatte sich über ihre Züge verbreitet. Der kleine, sonst so schlaffe Mund war schmal und fest, die Augen blitzten, und als sie sprach, klang aus ihrer Stimme eine ungewohnte Autorität. «Schnell, Chauffeur, schnell!»
    «Reist denn Ihr Mann nicht mit Ihnen?», fragte er erstaunt.
    «O nein, ich wollte ihn nur im Club absetzen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Er wird’s schon einsehen und sich ein Taxi nehmen. Reden Sie nicht so lange. Fahren Sie! Ich muss die Maschine nach Paris erreichen!»
    Unaufhörlich von Mrs.   Foster angetrieben, fuhr der Mann wie die Feuerwehr, sodass er sie einige Minuten vor dem Start des Flugzeugs in Idlewild absetzen konnte. Bald war sie hoch über dem Atlantik, behaglich in ihren Sessel gelehnt, dem Motorengebrumm lauschend, in Gedanken schon in Paris. Noch immer befand sie sich in dieser neuen Stimmung. Sie fühlte sich ungemein kräftig und empfand ein eigenartiges Wohlbehagen. Wenn sie ein wenig atemlos war, so kam das mehr von der Verwunderung über das, was sie getan hatte, als von sonst etwas, und während sich das Flugzeug immer weiter von New York und der Zweiundsechzigsten Straße entfernte, senkte sich eine große Ruhe auf sie herab. Bei der Ankunft in Paris war sie so frisch, kühl und gelassen, wie sie es sich nur wünschen konnte.
    Sie lernte ihre Enkelkinder kennen und fand sie in Fleisch und Blut noch viel schöner als auf den Fotos. Wie Engel, sagte sie sich, wie Engel sind sie! Und jeden Tag ging sie mit ihnen spazieren, fütterte sie mit Kuchen, kaufte ihnen Geschenke und erzählte ihnen wunderhübsche Geschichten.
    Einmal in der Woche, am Dienstag, schrieb sie ihrem Mann einen netten Plauderbrief, voll von Neuigkeiten und Klatsch, den sie stets mit den Worten schloss: «Und bitte, achte darauf, dass Du regelmäßig isst, obgleich ich befürchte, Du wirst das nicht tun, solange ich weg bin.»
    Als die sechs Wochen um waren, bedauerten alle, dass sie nach Amerika zurückkehren musste. Alle, nur sie nicht. Merkwürdigerweise schien ihr das nicht so viel auszumachen, wie man hätte erwarten können, und als sie ihre Lieben zum Abschied küsste, deutete irgendetwas in ihrem Verhalten und in ihren Worten auf die Möglichkeit hin, dass sie in

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