Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
verweigerte und täglich an Gewicht verlor.
Er blickte von der Zeitschrift auf und dachte an sein Töchterchen.
Vorhin zum Beispiel hatte die Kleine zu Beginn der Mahlzeit die Augen aufgeschlagen, und da war ihm etwas aufgefallen, was ihn sehr beunruhigte – dieser leere, verschwommene Blick, als wären die Augen gar nicht mit dem Gehirn verbunden, sondern lägen wie kleine graue Murmeln in ihren Höhlen.
Ob die Ärzte eigentlich wussten, was sie sagten?
Er zog seinen Aschbecher heran und kratzte langsam mit einem Streichholz die Asche aus dem Pfeifenkopf.
Man konnte ja das Kind zur Vorsicht in einem anderen Krankenhaus untersuchen lassen, vielleicht in Oxford. Wenn er nachher hinaufging, wollte er Mabel das vorschlagen.
Er hörte noch immer ihre Schritte im Schlafzimmer, aber sie hatte wohl die Schuhe mit Pantoffeln vertauscht, denn das Geräusch war sehr leise.
Wieder richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Zeitschrift. Er las die «Hinweise zur Bekämpfung der Nosema», blätterte um und nahm den nächsten Artikel in Angriff: «Das Neueste über Gelée Royale». Allerdings bezweifelte er, dass Dinge darin stehen würden, die er noch nicht wusste.
Was ist diese wundervolle, Gelée Royale genannte Substanz?
Er griff nach der Tabaksdose, die neben ihm auf dem Tisch stand, und stopfte seine Pfeife, während er las.
Gelée Royale ist ein Drüsensekret der Ammenbienen, mit dem die Larven unmittelbar nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei gefüttert werden. Die Speicheldrüsen der Bienen produzieren diese Substanz auf ähnliche Art, wie die Brustdrüsen der weiblichen Säugetiere Milch produzieren. Diese Tatsache ist von großem biologischem Interesse, weil es in der Welt keine anderen Insekten gibt, die einen solchen Prozess entwickelt haben.
Weiß ich ja alles, dachte er, las aber weiter, denn er hatte nichts Besseres zu tun.
In den ersten drei Tagen nach dem Ausschlüpfen werden alle Bienenlarven mit Gelée Royale in konzentrierter Form gefüttert; danach wird für jene, die zu Drohnen oder Arbeiterinnen bestimmt sind, diese wertvolle Nahrung stark mit Honig und Blütenstaub verdünnt. Die Larven jedoch, die dazu bestimmt sind, Königinnen zu werden, erhalten ihre ganze Larvenzeit hindurch den konzentrierten Futtersaft, also reines Gelée Royale. Daher der Name.
Über ihm im Schlafzimmer waren keine Schritte mehr zu hören. Das Haus war still. Er zündete ein Streichholz an und hielt es an die Pfeife.
Gelée Royale muss eine ungeheuer nahrhafte Substanz sein, denn die Bienenlarven, die mit nichts anderem gefüttert werden, haben nach fünf Tagen das Fünfzehnhundertfache ihres ursprünglichen Gewichts erreicht.
Wird so ungefähr stimmen, dachte er, obwohl ihm noch nie eingefallen war, das Wachstum der Larven nach dem Gewicht zu bestimmen.
Das ist, als wäre ein Baby von siebeneinhalb Pfund im gleichen Zeitraum um fünf Tonnen schwerer geworden.
Albert Taylor stutzte und las den Satz noch einmal.
Er las ihn auch noch ein drittes Mal.
Das ist, als wäre ein Baby von siebeneinhalb Pfund … «
Mabel!», schrie er, von seinem Stuhl aufspringend. «Mabel! Komm her!»
Er ging hinaus, blieb an der Treppe stehen und rief von neuem nach seiner Frau.
Keine Antwort.
Er lief hinauf und knipste auf dem oberen Flur das Licht an. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Er öffnete sie und blickte von der Schwelle in das dunkle Zimmer. «Mabel», sagte er, «sei so gut und komme einen Augenblick herunter. Ich habe eine großartige Idee. Es handelt sich um das Baby.»
Die Lampe hinter ihm warf einen schwachen Lichtschein über das Bett, und er konnte undeutlich sehen, dass Mabel auf dem Bauch lag, das Gesicht in die Kissen gepresst, die Arme von sich gestreckt. Sie weinte.
Er trat zu ihr und berührte ihre Schulter. «Mabel», bat er, «komm herunter. Vielleicht ist es wichtig.»
«Geh weg», sagte sie. «Las mich in Ruhe.»
«Möchtest du denn nicht hören, was mir eben eingefallen ist?»
«Ach, Albert», schluchzte sie. «Ich bin müde. So müde, dass ich nicht mehr weiß, was ich tue. Ich kann das nicht länger aushalten. Ich kann nicht, ich kann nicht …»
Eine Pause entstand. Albert Taylor wandte sich ab, ging langsam zu dem Bettchen hinüber, in dem die Kleine lag, und schaute hinein. In der Dunkelheit war das Gesicht des Kindes nicht zu erkennen, doch als er sich vorbeugte, hörte er die schnellen, schwachen Atemzüge.
«Wann bekommt sie wieder die Flasche?», fragte er.
«Um zwei.»
«Und dann die
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