Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
entfernt. Vielleicht versucht sie etwas zu sagen, vielleicht ist sie auch zu überrascht, um etwas zu sagen, aber ich sehe nichts als ihren Mund, einen riesigen roten Mund, der sich weiter und weiter öffnet, bis er nur noch ein tiefes klaffendes Loch mit einer schwarzen Mitte ist. Ich schreie wieder, und diesmal kann ich nicht aufhören. Dann kommen plötzlich ihre Hände auf mich zu, ich fühle ihre Haut an der meinen, lange, kalte Finger schließen sich eng um meine Fäuste, ich springe zurück, reiße mich los, stürze blindlings in die Nacht hinaus. Immerfort schreiend, renne ich die Auffahrt entlang und durch das Tor, höre dabei hinter mir im Dunkeln das Klirren der Armbänder, das mein Geschrei übertönt und immer lauter wird, je näher sie mir kommt auf dem Weg, der bergab führt, den Hügel hinunter und über die Brücke zur Landstraße, wo viele Wagen mit blendenden Scheinwerfern im Sechzigmeilentempo dahinrasen.
Irgendwo hinter mir höre ich das Kreischen von Bremsen, das Scharren von Reifen auf dem Asphalt. Dann wird es still, und plötzlich bemerke ich, dass die Armbänder nicht mehr klingeln.
Arme Mutter.
Hätte ich sie nur etwas länger behalten dürfen.
Ich gebe zu, dass sie mir mit diesen Kaninchen einen furchtbaren Schreck eingejagt hat, aber es war nicht ihre Schuld. Irgendwie passierten zwischen uns immer so seltsame Dinge, und ich hatte mir angewöhnt, darin eine Art Abhärtung zu sehen, die mir eher nützte als schadete. Hätte sie nur lange genug gelebt, um meine Erziehung vollenden zu können, so wäre mir sicherlich all der Verdruss erspart geblieben, von dem ich Ihnen vor fünf Minuten berichtet habe.
Damit bin ich wieder bei meinem Thema. Von meiner Mutter wollte ich nämlich gar nicht sprechen. Sie hat nichts mit dem zu tun, wovon hier die Rede sein soll, und ich werde sie nicht mehr erwähnen.
Ich habe Ihnen von den alten Jungfern meines Kirchspiels erzählt. Nicht wahr, alte Jungfer ist ein hässliches Wort? Es beschwört das Bild einer zähen, alten Henne mit runzligem Schnabel herauf oder lässt an ein schandmäuliges Monstrum denken, das in Reithosen im Hause herumstapft. Aber das traf auf meine alten Jungfern keineswegs zu. Sie waren saubere, gesunde, ansehnliche Frauen, die meisten von ihnen aus sehr guter Familie und obendrein wohlhabend, sodass jeder andere unverheiratete Mann ihre Gesellschaft recht erfreulich gefunden hätte.
Anfangs, als ich noch neu im Kirchspiel war, hatte ich keinen Grund zur Klage. Mein Beruf und mein geistliches Gewand boten mir einen gewissen Schutz, und zudem befleißigte ich mich einer würdevollen Zurückhaltung, um Vertraulichkeiten von vornherein abzuwehren. So konnte ich mich einige Monate lang sorglos im Kreise meiner Pfarrkinder bewegen. Keine Dame ließ es sich einfallen, mich auf einem Wohltätigkeitsbasar unterzufassen oder meine Finger zu berühren, wenn sie mir beim Abendessen das Salzfässchen reichte. Ich war sehr glücklich und fühlte mich so wohl wie seit Jahren nicht mehr. Sogar die nervöse Angewohnheit, beim Sprechen mein Ohrläppchen mit dem Zeigefinger zu reiben, verlor sich allmählich.
Das war, was ich die erste Periode nenne, und sie erstreckte sich über nahezu sechs Monate. Dann kam der Ärger.
Freilich, ich hätte wissen müssen, dass ein gesunder Mann nicht hoffen darf, Verwicklungen nur dadurch zu vermeiden, dass er auf Distanz zwischen sich und den Damen bedacht ist. Auf die Dauer hilft das gar nichts. Hat es eine Wirkung, dann eher die entgegengesetzte.
Wie oft sah ich sie bei einer Whistpartie verstohlen zu mir herüberspähen. Sie tuschelten miteinander, nickten vielsagend, leckten sich die Lippen, sogen an ihren Zigaretten, schmiedeten flüsternd Angriffspläne. Manchmal fing ich ein paar Gesprächsfetzen auf: «Was für ein scheuer Mensch … ein bisschen nervös ist er, nicht wahr … viel zu verkrampft … er braucht Gesellschaft … man müsste ihm die Hemmungen nehmen … ihn lehren, sich zu entspannen.» Und dann, im Laufe der nächsten Wochen, fingen sie an, mich einzukreisen. Ich wusste, dass sie es taten, ich fühlte, was vor sich ging, obwohl sie fürs Erste ihre Absicht durch nichts verrieten.
Das war die zweite Periode. Sie dauerte den größten Teil eines Jahres. Eine aufreibende Zeit, und doch war es der Himmel auf Erden, verglichen mit der dritten und letzten Phase.
Denn nun gaben die Angreifer nicht mehr vereinzelte, ungezielte Schüsse aus dem Hinterhalt ab – nein, sie stürzten
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