Küsse im Mondschein
Ballsaales der Kendricks, und er umschloss gleich zwei Seiten des Herrenhauses, so dass man von ihm aus auch den angrenzenden Garten überblicken konnte.
Fröstelnd schlang Amanda die Arme um sich. Das Wetter war recht ungemütlich geworden; ein stürmischer, von starken Böen begleiteter Wind peitschte dicke Regenwolken über den Himmel. Es schien nicht mehr lange zu dauern, bis ein kräftiger Regenguss niederprasseln würde. Die Arme noch ein wenig fester um ihren Körper geschlungen, eilte Amanda zur anderen Seite des Balkons.
Plötzlich würde hinter ihr die Tür geöffnet. »Amanda?«
Sie wirbelte herum und spähte blinzelnd zu der blonden Gestalt hinüber, die sich scherenschnittartig gegen das geradezu gleißend hell anmutende Licht des Ballsaales abhob.
»Was machst du denn hier draußen?« Simons Tonfall, ein Tonfall, wie ihn sich wohl nur ein jüngerer Bruder erlauben konnte, ließ erahnen, dass er seine Schwester in diesem Augenblick für nicht ganz zurechnungsfähig hielt.
»Äh... ich schnappe nur ein bisschen frische Luft. Da drinnen ist es so stickig.« Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Simon sie wohl beobachtet haben musste. Zudem ließen die Tatsache, dass er ihr überhaupt gefolgt war, sowie seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen nur eines vermuten... ihr kleiner Bruder wurde langsam erwachsen. Und er war ein Cynster durch und durch.
Doch das war auch Amanda. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »In ein paar Minuten komme ich wieder rein.«
Simon runzelte die Stirn, trat schließlich ganz auf den Balkon hinaus. »Was führst du im Schilde?«
Amanda straffte die Schultern; wie gerne hätte sie ihn nun von oben herab angesehen. Doch mit mittlerweile neunzehn Jahren überragte Simon sie bereits um einiges.
»Ich führe nichts ›im Schilde‹, wie du es nennst.« Zumindest im Moment noch nicht. Und wenn Simon nicht bald verschwände, dann würde aus ihrem geheimen Plan wohl auch tatsächlich nichts mehr werden. Amanda versuchte, ihren Bruder mit einem strafenden Blick regelrecht zu durchbohren. »Was bildest du dir eigentlich ein? Ich trete lediglich hinaus auf einen Balkon, der so schmal ist, dass er im Grunde sowieso nur noch als Abbruchkante bezeichnet werden kann, und du meinst gleich, ich führte etwas ›im Schilde‹?« Schwungvoll breitete Amanda die Arme aus. »Ich steh doch bloß mutterseelenallein auf einem Balkon. Und bis zum Boden ist es auch noch ein ganzes Stück!«
In genau diesem Augenblick begannen die Wolken, ihre Last abzuwerfen; stürmisch brauste der Wind heran und schleuderte dicke Regentropfen gegen das Herrenhaus. Amanda schnappte nach Luft und wich gegen die Hauswand zurück.
Simon packte seine Schwester am Arm. »Nun wird es aber wirklich kalt! Du holst dir noch eine Erkältung, und dann hält Mama dir wieder eine Standpauke. Komm jetzt endlich rein!«
Damit zog er sie mit sich in Richtung der Balkontür. Amanda zögerte noch. Der Regen fiel unterdessen immer dichter. Wenn sie jetzt nicht hineinginge, wäre sie im null Komma nichts völlig durchnässt. Unwillig vor sich hin grummelnd gestattete Amanda ihrem Bruder, sie zurück in den Ballsaal zu schleifen.
Sie hoffte nur, dass Martin irgendwie erfahren würde, dass sie ihre Verabredung eingehalten hatte.
Doch Martin hatte von seinem Platz unter dem Balkon bereits alles belauscht; er hatte Amandas Schritte verfolgt und auch, wie die Tür zum Ballsaal mit einem leisen Klicken wieder geschlossen wurde. Und nun stand er da und hörte nur noch, wie rund um ihn herum der Regen niederprasselte. Er war schon ein merkwürdiger Romeo: Allein im Regen stehend und seine Julia in weiter Ferne.
Aber so etwas passierte eben, wenn man - erfüllt von der Glut der Leidenschaft - übereilte Pläne schmiedete.
Wie absolut nutzlos dieses Treffen im Grunde war, war Martin allerdings erst aufgegangen, nachdem er von Osterley aus endlich wieder zu Hause angelangt war. Denn so lange hatte es gedauert, bis er aufgehört hatte, noch immer an all das zu denken, was sich in dem kleinen bewaldeten Tal ereignet hatte - beziehungsweise, bis er aufgehört hatte, an all das zu denken, was sich dort eben gerade nicht ereignet hatte. Und nachdem er schließlich endlich wieder einen klaren Gedanken hatte fassen können, war ihm nur allzu schmerzlich bewusst geworden, dass die paar heimlichen sündigen Augenblicke, die Amanda und er gelegentlich miteinander verbrachten, im gegenwärtigen Stadium ihrer Diskussionen ohnehin nicht das
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