Küsse im Morgenlicht
bereiten mochte. Und nun, da Amelia all das, was sich während ihres aufregenden Nachmittags ereignet hatte, noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren ließ und sich zugleich bemühte, die Situation auch aus Lucs Blickwinkel zu betrachten - da brach mit plötzlicher Macht eine Woge der Niedergeschlagenheit über sie herein.
Hätte sie nun vielleicht besser doch schreien sollen? Oder lag die Sache vielleicht genau anders herum, und er hatte jetzt, wo er vielleicht auch noch einmal über das Geschehene nachgedacht hatte, festgestellt, dass ihm ihre forsche Art im Grunde doch nicht gefiel? War sie vielleicht zu entgegenkommend gewesen? Konnte man überhaupt zu entgegenkommend sein bei einem Mann - bei einem Schwerenöter - wie ihm?
Oder hatte sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit irgendetwas getan, das ihm missfallen hatte?
War das also der Grund dafür gewesen, dass Luc deutlich eher, als eigentlich nötig gewesen wäre, wieder aus ihrem Zimmer verschwunden war? Sicherlich, es stimmte, er hatte vor dieser Reise hartnäckig - und geradezu kategorisch - klargestellt, dass er ihre Intimitäten miteinander bis zum Ende der offiziellen Brautwerbephase erst einmal ein wenig zurückstellen wollte. Und dennoch hatten sie sich in Amelias Schlafzimmer schließlich einander hingegeben.
Alles in allem war dies also ganz und gar nicht jene Art von Verhalten, wie Amelia sie von einem Mann seines Rufes erwartet hätte. Schließlich wusste sie genau, dass Luc seit seiner späten Jugendzeit stets einen ganzen Schwarm an Verehrerinnen um sich gehabt hatte. Und er hatte sich auch nie gescheut, die eine oder andere dieser Damen etwas näher kennen zu lernen.
Amelias Magen krampfte sich zusammen - doch es war nicht dieses wohlig kribbelige Gefühl der Vorfreude, das sich in ihrer Magengegend ausbreitete, sondern… Und schließlich kam ihr noch ein ganz anderer und wahrlich absolut grauenerregender Gedanke. War Lucs düstere Verstimmung etwa ein Anzeichen dafür, dass er es bereits bereute, sich mit ihr eingelassen zu haben? Bedauerte er etwa all das, was sich an diesem Nachmittag zwischen ihnen beiden ereignet hatte?
Diese Befürchtung setzte sich in ihrem Kopf mehr und mehr fest, grub sich tief in ihr Bewusstsein ein und wuchs zu schier unüberschaubarer Größe heran, bis sie letztlich alles andere überschattete. Amelia bemühte sich verzweifelt, noch einmal Lucs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch er sah nicht mehr in ihre Richtung. Stattdessen schien er sich sogar regelrecht von ihr zu distanzieren. Dann, endlich, ertönte der Gong, das Signal zum Essen, und die bunte Gesellschaft bewegte sich langsam hinüber ins Esszimmer. Luc, als einem der bereits etwas reiferen unter den anwesenden Gentlemen, fiel natürlich die Aufgabe zu, als Tischherr eine der grandes dames an deren Platz zu führen. Amelia ließ sich einige Plätze von ihnen entfernt nieder.
Und da alle, vor allem natürlich ihre scharfäugige Mama, von ihr erwarteten, dass sie sich fröhlich und sorgenfrei gab, musste Amelia nun notgedrungen lachen, plaudern und scherzen, als ob nicht die kleinste Sorge ihre Stimmung trüben könnte. Sie hoffte inständig, dass sie ihre Rolle gut spielte. In Wahrheit jedoch konnte sie nur schwer einschätzen, wie ihr Benehmen wohl auf ihre Umwelt wirken mochte. Aber während das abendliche Zusammensein seinen Lauf nahm, verließ sie immer mehr der Mut, und im Stillen beschäftigten sie nur noch zwei zentrale Fragen. Wo standen sie beide nun mit ihrer Beziehung? Und würde er heute Nacht abermals in ihr Zimmer schlüpfen und sie damit von ihren Ängsten und Zweifeln befreien?
Es war also nicht verwunderlich, dass Amelia sich im Nachhinein weder an die Speisen erinnern konnte, die aufgetischt wurden, noch an auch nur ein einziges Wort, das sie mit ihren Tischnachbarn gewechselt hatte.
Schließlich erhoben die Damen sich und zogen sich zurück in den Salon, während die Herren - eine gut gelaunte Gemeinschaft - noch gemütlich sitzen blieben und das eine oder andere Glas Portwein genossen. Mit einem Lächeln gesellte Amelia sich zu Anne, Fiona und noch drei anderen der jüngeren Mädchen, ließ sich von ihrem Geplauder einlullen und wartete unterdessen darauf, dass auch die Gentlemen endlich wieder in den Salon zurückkehren würden. Sie wartete darauf, dass Luc sich endlich wieder neben sie stellte - dass er endlich wieder mit ihr sprach, wieder kleine Absprachen traf, wie und wo sie sich das nächste Mal treffen könnten,
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