Küsse im Morgenlicht
auf jeden Fall noch dabei gewesen. Er erinnerte sich sogar, dass sie erst ein wenig verspätet erschienen war - sie hatte das leicht zerknautschte Kleid, in dem sie von ihrer Wanderung zurückgekehrt war, gegen ein frisches und kühl wirkendes Kleid aus apfelgrünem Musselin eingetauscht. Als Luc sie in diesem Kleid erblickt hatte, da hatte er sich sofort gewünscht, er wäre mit ihr gegangen, wäre ihr von der Terrasse zu ihrem Zimmer hinauf gefolgt und hätte ihr das Ausflugskleid von der feuchten Haut gezogen... Denn statt sich an kaltem Braten und Erdbeeren gütlich zu tun, hätte er sehr viel lieber an gewissen anderen Früchten genascht, das wäre noch wesentlich mehr nach seinem Geschmack gewesen...
Doch Luc verdrängte die verführerischen Bilder, die diese Gedanken unweigerlich in seinem Kopf heraufbeschworen, und zwang sich, sich wieder an die Lunchgesellschaft unter den Bäumen zu erinnern.
Er hatte Amelia nur aus der Ferne betrachtet. Hatte es angesichts der gereizten Stimmung, die gerade zwischen ihnen herrschte, nicht gewagt, ihr zu nahe zu kommen. Weiß der Himmel, zu welchen öffentlichen Wutausbrüchen sie ihn sonst womöglich provoziert hätte! Oder, schlimmer noch, zu welchen Kurzschlusshandlungen er sich womöglich hätte hinreißen lassen. Dann, gerade in dem Moment, als die Mittagsgesellschaft sich langsam wieder auflöste, hatte die alte Lady Mackintosh ihn zu sich herbeordert. Und dann hatte sie auch noch darauf bestanden, ihm unbedingt ihre Nichte vorzustellen - eine attraktive, aber ein klein wenig zu selbstsichere junge Dame, die sich ihrer Reize durchaus bewusst war. Reize, die sie eindeutig zu jenem Zwecke einzusetzen gedachte, um sich Luc unter den Nagel zu reißen.
Einen Moment lang war er versucht gewesen, ihr frei heraus zu erklären, dass sie bei ihm ohnehin keine Chance hätte - von allzu plump auftretenden Frauen hatte er sich noch nie angezogen gefühlt. Was ihm jedoch - zugegebenermaßen - im Nachhinein manchmal doch leidgetan hatte …
Bei diesem Gedanken hatte Luc rasch einmal den Blick über die verstreute Gästeschar schweifen lassen und festgestellt, dass Amelia verschwunden war. Er hatte sich gerade noch so weit beherrschen können, dass er die beiden Damen mit seiner plötzlichen Verabschiedung nicht allzu sehr brüskierte, hatte sich dann aber sofort auf die Suche nach Amelia gemacht.
Seitdem war nun eine komplette Stunde verstrichen, er stand ratlos in der Haupthalle und war noch keinen Schritt weitergekommen.
Sie hatte doch gewusst, dass er gerne mit ihr sprechen wollte - und sie hatte ihm versprochen, nicht einfach zu verschwinden. Luc dachte kurz über die Möglichkeit nach, dass sie sich vielleicht sogar ganz bewusst vor ihm versteckte, um ihn zu reizen... schob diesen Gedanken dann aber entschlossen wieder beiseite. Denn so dumm war Amelia nicht.
Also... wenn sie nun nicht irgendwo geduldig auf ihn wartete...
Luc schloss die Augen und stöhnte leise. Nein, das konnte nicht wahr sein, oder etwa doch? Das war nun wirklich der letzte Ort, an den er gedacht hätte - an den er ganz bewusst nicht hatte denken wollen. Und dennoch... wenn man überlegte, in welche Richtung Amelias Gedanken in letzter Zeit stets so hartnäckig gewandert waren …
Sie gleich in der Nacht abermals in ihrem Schlafzimmer aufzusuchen wäre, zumindest für seinen Geschmack, zu gefährlich gewesen. Denn er hatte noch lange unter der Last der unangenehmen Überraschung vom Nachmittag zu leiden gehabt. Und mit »unangenehm« meinte er keineswegs die Folgen seiner Verführung, sondern vielmehr die Tatsache, dass es ihn noch immer beunruhigte, ihn »unangenehm« berührte, wie mühelos sie ihn hatte verführen können; wie leicht sein Verlangen nach ihr seinen Willen hatte ausschalten können. Außerdem ärgerte er sich natürlich über die Tatsache, dass das alles nicht etwa eine ungünstige Fügung gewesen war, sondern dass Amelia das Ganze, ohne mit der Wimper zu zucken und gegen seinen ausdrücklichen Willen, stillschweigend geplant und diesen Plan schließlich auch noch skrupellos in die Tat umgesetzt hatte. Und nicht zuletzt hatte Luc auch mit den unvermuteten und höchst beunruhigenden Emotionen zu kämpfen gehabt, die sie mit diesem Schachzug in sein Leben gebracht hatte. Luc hatte also nicht das geringste Bedürfnis danach verspürt, eher wieder mit ihr zu sprechen, als bis er Zeit gehabt hatte, das Tohuwabohu an Gedanken, die ihm durch den Kopf jagten, wieder ein wenig zu ordnen. Im
Weitere Kostenlose Bücher