Küsse im Morgenlicht
wieder geworden war. Und im Geheimen befürchtete er, dass sie nur deshalb sich sowohl seines Haushalts als auch seiner Schwestern annahm, weil sie damit in letzter Konsequenz auch Macht über ihn gewann.
Seine Stellung als Vicomte von Calverton, sein ganzes Wesen waren so eng mit diesem Zuhause, mit dieser Familie verbunden, dass eine Frau, die sowohl sein Haus als auch seine Schwestern im Griff hatte, damit auch Luc selbst befehligte. Den Einfluss, den Amelia nun auf die Führung des Hauses hatte, den sollte sie natürlich behalten, das war schließlich ihre Aufgabe als seine Ehefrau. Aber dass sie ihm nun auch im Umgang mit seinen Schwestern unter die Arme griff, damit hatte er nicht gerechnet.
Es war sehr leichtsinnig von ihm gewesen, sich die Macht über seine Familie so einfach aus der Hand reißen zu lassen. Vor allem aber ängstigte ihn der Gedanke, dass er sich auch in vielerlei anderer Hinsicht von Amelia hatte überrumpeln lassen. Und wie es schien, verlor er sogar noch stetig mehr an Boden.
Er hatte schon vor einer ganzen Weile erkannt, dass es allein die Liebe war, die diesen gefährlichen Einfluss auf ihn hatte - es war schon immer seine verborgene Angst gewesen, dass diese ihn eines Tages voll und ganz beherrschen würde. Und genau das war nun auch geschehen, wie Luc durchaus bewusst war.
Amelia war schon als junges Mädchen schrecklich herrisch gewesen und mindestens genauso dickköpfig wie er selbst. Dennoch hatte er nie irgendeine andere Frau wirklich begehrt, hatte niemals eine andere heiraten wollen als Amelia. Und genau das war sie nun - seine Ehefrau.
Seine Unsicherheit, sein Misstrauen, seine nicht enden wollenden Zweifel... all das rührte allein von der Tatsache her, dass er nicht wusste, warum sie ihn eigentlich geheiratet hatte. Er hatte Mutmaßungen angestellt, hatte gegrübelt, hatte die unterschiedlichsten Gedankenkonstrukte aufgestellt. Und doch hatten sie ihn allesamt nicht einen Schritt weitergebracht, wie Luc nun einsehen musste.
Denn die Antwort auf seine Frage lag noch immer in weiter Ferne.
Aber selbst wenn Luc auch weiterhin nicht wusste, was hinter Amelias Verhalten steckte, so ließ er sich doch nun endlich auf den Gedanken ein, dass es wohl nicht die Herrschsucht war, die sie trieb. Nein, beherrschen wollte sie ihn gewiss nicht. Darauf vertraute er jetzt ganz einfach. Auch auf die Gefahr hin, dass er damit wieder einmal in eine ihrer Fallen tappte.
Am kommenden Nachmittag saß Amelia in ihrem kleinen Salon und rechnete gerade die Ausgaben für den Haushalt zusammen, als Mrs. Higgs eintrat.
»Gerade kommt eine Kutsche die Auffahrt heraufgefahren, Ma’am. Es sitzen ein dunkelhaariger Gentleman und eine dunkelhaarige Lady darin. Hier aus der Nachbarschaft jedenfalls stammen sie nicht. Aber ich glaube, ich habe sie auf Eurer Hochzeit gesehen.«
Gedankenverloren legte Amelia den Stift nieder. »Ich komme und sehe selbst einmal nach.«
Den nächsten Besuch erwartete sie eigentlich erst in ein paar Tagen. Ihre Eltern, Simon und ihre Tante Helena sollten kommen. Diese besuchten zurzeit noch Amanda und Martin auf Hathersage, dem neuen Zuhause von Amelias Schwester, das sie leider noch immer nicht kennen gelernt hatte. Auf dem Rückweg wollte dann die gesamte Reisegesellschaft samt Amanda und ihrem Ehemann auf Calverton Chase Halt machen. Nun aber sorgte Amelia sich, dass irgendein Unglück geschehen war - warum sonst sollten sie schon so viel eher bei ihr einkehren? Hastig lief sie in die Eingangshalle.
Cottsloe öffnete ihr die Haustür, Amelia trat hinaus und hob die Hand, um ihre Augen gegen die grelle Sonne abzuschirmen. Aufmerksam ließ sie den Blick die lange, gewundene Auffahrt hinabschweifen. Und dann entdeckte sie die Karriole, die langsam den Weg zum Herrenhaus herauf nahm.
Amelia trat wieder einen Schritt zurück und erteilte Cottsloe eine knappe Anweisung: »Bitte sagt Seiner Lordschaft, dass Lucifer und Phyllida angekommen sind.«
Dann wandte sie sich um, ging hinaus und wartete unter dem Portikus, um ihren Cousin und dessen Ehefrau zu begrüßen.
»Was ist denn los, ist etwas passiert?«, fragte sie, kaum dass Lucifer sich vom Bock seiner Karriole hinabgeschwungen hatte.
Sein Blick wanderte an Amelia vorbei und zu dem Pferdeknecht hinüber, der bereits herbeigeeilt kam, um die Kutschpferde in Empfang zu nehmen. Dann trat er in den Schatten des Portikus, wo Cottsloe und ein Lakai diensteifrig schon regelrecht darauf lauerten, das Gepäck abladen zu
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