Küsse im Morgenlicht
wach geblieben, weil Clara sich nicht wohl fühlte, so erzählte sie uns. Als Althorpe dann irgendwann in ihre Kammer zurückkehrte, sah sie draußen eine junge Dame, die eilig zu unserem Haus hinauflief. Es war schon weit nach Mitternacht. Althorpe ist sich ganz sicher, dass die junge Lady älter war als ein Schuldmädchen, aber wiederum auch noch keine verheiratete Frau zu sein schien. Und sie hatte den Eindruck, dass das Mädchen sehr aufgebracht war. Sie hätte richtiggehend verzweifelt gewirkt.«
»Konnte die Pflegerin das Mädchen beschreiben?«, fragte Amelia.
»Ja, sie hatte sie von ihrem Kammerfenster aus genau beobachtet. Das Gesicht hatte sie nicht gesehen, aber sie konnte dickes, braunes Haar erkennen, das ungefähr bis zur Schulter reichte. Die junge Dame trug offenbar einen Umhang, aber die Kapuze war ihr vom Kopf gerutscht.«
»Braunes Haar«, murmelte Luc. Wieder nahm er einen Schluck von seinem Brandy.
»Ganz genau. Da war Althorpe sich sehr sicher. Das Haar der Dame war nicht schwarz und auch nicht blond. Sondern braun.«
Dann könnte es eine meiner Schwestern sein.
Luc selbst war es gewesen, der die unausweichliche Schlussfolgerung laut ausgesprochen hatte. Amelia wusste, wie viel Überwindung ihn diese Feststellung gekostet haben musste.
Weder Lucifer noch Phyllida hatten darauf noch etwas erwidert, und schon kurze Zeit später zogen sich alle ernst und in Gedanken versunken auf ihre Zimmer zurück.
Mittlerweile lag Amelia bereits in ihrem gemeinsamen Bett und beobachtete, wie Luc langsam auf sie zukam. Über sein Gesicht schien sich eine undurchdringliche Maske gelegt zu haben. Er war Amelia ferner als jemals zuvor, hatte sich innerlich weiter von ihr zurückgezogen als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, seit sie erstmals über ihre Ehe gesprochen hatten.
Sein Anblick schnitt ihr regelrecht ins Herz. Nur unter großen Mühen hatte er seine Familie aus der katastrophalen finanziellen Lage erlösen können, in die sein Vater sie gestürzt hatte. Mit beinahe letzter Kraft hatte er sie durch den schmerzhaften Skandal geleitet, den sein Bruder Edward verursacht hatte. Die ganzen vergangenen Jahre über hatte er stets sein Bestes gegeben, hatte hart gearbeitet und schließlich - endlich - alles wieder ins rechte Lot gebracht... Und ausgerechnet jetzt sollten alle seine Bemühungen durch diesen neuen Nackenschlag wieder zunichte gemacht werden?
Die Bedrohung, die mit dieser schrecklichen Angelegenheit über der Familie schwebte, war nicht zu unterschätzen. Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass eines seiner Familienmitglieder… Es war ungewiss, wie Luc diesen Schmerz verkraften würde.
Amelia wartete, bis er sich neben sie legte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte geradeheraus: »Was meinst du, wer es gewesen ist? Emily oder Anne?«
Das Schweigen, die Gedankenverlorenheit waren typische Wesenszüge von Luc. Nun aber schien es fast so, als wollte er nie wieder sprechen. Er sagte nichts, überhaupt nichts, sondern lag einfach nur reglos neben ihr. Amelia biss sich auf die Lippe, konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nun nicht einfach verzweifelt auf ihn einzureden, um damit wieder in sein Bewusstsein vorzudringen. Fast schon wollte sie ihre Frage wieder zurücknehmen -
Da stieß Luc einen tiefen Seufzer aus. »Ich glaube...« Wieder hielt er inne. Dann nahm seine Stimme plötzlich einen ungewohnt tonlosen Klang an: »Ich frage mich, ob es nicht vielleicht Mama gewesen sein könnte.«
Damit wandte er sich zu Amelia um, tastete nach ihrer Hand, schloss seine Finger darum, packte sie und drückte sie fest. »Vielleicht... na ja, du weißt doch selbst, dass es in vielen Familien ein derartiges Problem gibt. Nur dass diejenigen ihre Sorgen meist nicht nach außen dringen lassen und niemand je darüber spricht.«
Das war eine Möglichkeit, an die Amelia noch gar nicht gedacht hatte. »Du meinst...« Sie drehte sich zu ihm um, rückte ein wenig näher an ihn heran, versuchte ihn durch ihre Berührung zu trösten. »Du meinst, dass sie vielleicht die Angewohnheit entwickelt haben könnte, Dinge, die ihr gefallen, einfach einzustecken, ohne dass es ihr selbst so richtig bewusst sein muss?«
Er nickte. »Denn das Mädchen, das die Pflegerin in jener Nacht beobachtet hat, könnte sich ja auch aus irgendeinem ganz anderen Grund dort draußen herumgetrieben haben. Die junge Frau muss ja nicht zwangsläufig etwas mit den Diebstählen zu tun gehabt haben.«
Amelia dachte an seine
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