Kuesse niemals deinen Chef
Wohnwagenpark einer dreckigen kleinen Stadt in Texas, von der nie jemand gehört hatte und aus der auch nie jemand herauskam. Denn Träume und Geld gab es in Racine nicht.“
„Grace …“, versuchte er einzuhaken, doch sie war schon zu weit gegangen und winkte nur ungeduldig ab.
„Meine Mutter wollte nicht verstehen, warum ich mich nicht mit irgendeinem Typen, der Interesse an mir zeigte, zusammentat und dort niederließ. So wie alle anderen auch. Doch das brachte ich nicht fertig.“ Grace schüttelte den Kopf, als könne sie so den breiten Akzent verscheuchen, der sich immer wieder einschlich, sobald sie über Texas sprach. „Ich habe alles gelesen, was ich in die Finger bekam, und ich habe geträumt. Weil Racine die einzige Heimat war, die ich kannte, hing ich natürlich an dem schäbigen Nest. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich dort wegmusste, sobald sich die erste Möglichkeit dazu ergab.“
Plötzlich hatte sie das Gefühl, wieder in dem stickigen Wohnwagen auf dem Campingplatz zu sitzen, in dem die Klimaanlage nie angestellt wurde, um jeden unnötigen Penny zu sparen.
„Während sich die anderen Mädchen auf den Autositzen ihrer Sweethearts und potenziellen Ehemänner tummelten, suchte ich mir ständig Jobs und trug jeden Penny zur Bank, um irgendwann studieren zu können. Aber ich war eben nicht nur ein Bücherwurm, sondern auch ziemlich hübsch …“
Geistesabwesend griff sie nach den Fotos auf dem Schreibtisch und fächerte sie in ihrer Hand auf.
„Zumindest haben mir das die wechselnden Liebhaber meiner Mutter versichert. Besonders, wenn sie betrunken waren. Also habe ich meine Nase noch tiefer in Bücher gesteckt. Ich war nicht nur Klassenbeste, sondern bekam sogar ein Stipendium. Doch gleichzeitig wusste ich, dass mein Erspartes nicht reichen würde, um meinen Unterhalt während des Studiums zu finanzieren. An meiner Überzeugung, dass ich zu etwas anderem geboren war als dem Leben, das meine Mutter führte, hat das allerdings nichts geändert.“
„Und damit hattest du auch völlig recht“, bestätigte ihr Lucas nachdrücklich.
Sein englischer Upperclass-Akzent führte Grace erneut vor Augen, wie groß die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen tatsächlich war. Und damit war auch klar, wie wenig Lucas Wolfe sie jemals verstehen würde. Trotzdem wünschte sie sich nichts mehr als das.
„Auf einem Klassenausflug nach San Antonio, wo wir ‚Alamo‘, die berühmte katholische Missionsstation besichtigten, hat Roger mich entdeckt.“ Diese Erinnerungen hätte sie am liebsten für immer vergraben, doch bis heute war ihr das nicht gelungen. Ebenso wenig, wie sie es geschafft hatte, ihren Akzent völlig auszumerzen oder ihre Wurzeln zu vergessen. Und alles hatte mit Roger Dambrot angefangen.
„Er war Fotograf“, sagte Grace heiser, „sogar ein ziemlich berühmter. Ihm verdanke ich, dass ich damals eine in meinen Augen astronomische Summe für einen Model-Vertrag angeboten bekam.“
Von ihrer kindischen Vernarrtheit in den erfahrenen Womanizer würde sie Lucas nichts erzählen. Auch nicht davon, dass Roger ihr kurzes Liebesverhältnis beendete und einfach von der Bildfläche verschwand, sobald die naive Siebzehnjährige genügend Mut gefasst hatte, ihm ihre heiße Liebe zu gestehen.
„Himmel, war ich damals stolz auf mich! Jedes Wort, jede noch so dick aufgetragene Schmeichelei habe ich ihm abgenommen und fühlte mich in meiner Selbsteinschätzung bestätigt, eben doch anders zu sein als die anderen. Etwas ganz Besonderes. Jemand, der es verdient hatte, reich und berühmt zu werden.“
„Grace …“ Lucas’ Stimme war wie ein sanftes Streicheln. Grace wehrte es mit einem Kopfschütteln ab.
„Allerdings hatte ich nicht erwartet, von jedem in Racine als Hure abgestempelt zu werden, sobald die Bademodenfotos veröffentlicht wurden. Von Lehrern und Nachbarn, meinen Mitschülern und dem damaligen Freund meiner Mutter.“
Immer noch glaubte sie, dessen lüsternen Blick auf ihrem Körper zu spüren, während er ihre weiblichen Formen mit den Fotos aus dem Magazin verglich. Plötzlich stand ihr alles wieder lebhaft vor Augen.
Der winzige Schlafraum in ihrem Wohnwagen, den sie immer als ihr privates Refugium angesehen hatte. Gravis’ schmierige Hände, die sie überall berührten, sein riesiger Körper, der nach Tabak, Schweiß und schalem Bier roch. Wie er sie mit seinem ganzen Gewicht auf die Matratze drückte, bis sie vor Ekel und Panik fast das Bewusstsein verlor.
Und dann
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