Kuessen al dente - Roman
ihr Gepäck mitten im Wohnzimmer ab und machte erst einmal einen Rundgang durch die Wohnung. Wie eine interessierte Käuferin begutachtete sie die Küche, das Schlafzimmer, das Bad und blieb am Schluss vor dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer stehen. Ein Schlepper glitt lautlos den East River hinauf und fuhr unter der Queensboro Bridge durch, an der soeben die Lichter für die Nacht angegangen waren. Sie war zu Hause.
Eine junge Frau mit glatten Haaren hielt sich die Hand vor den Mund und flüsterte darunter in ihr Handy, während zwei Stühle weiter ein dicker Mann mit silbrigen Tränensäcken und einer Strickmütze auf dem Kopf, die er bis zu seinen wild wuchernden grauen Augenbrauen heruntergezogen hatte, die Frau empört musterte.
»Ich finde, Handys sollten in Restaurants verboten werden, meinen Sie nicht auch?«, bemerkte er laut und warf Georgia einen Blick zu, der dritten Person, die an diesem Oktobernachmittag am Gemeinschaftstisch im Pain Quotidien saß und auf ihre Bestellung wartete.
Sie hatte den Platz sorgfältig ausgewählt, weit genug von den anderen Gästen entfernt, um nicht in eine Unterhaltung hineingezogen zu werden, und auch mit einigem Abstand zum Verkaufstresen, der sich durchs Lokal zog, um nicht Gefahr zu laufen, einen Laptop oder einen Schoßhund an den Kopf zu kriegen. Sie hatte so was schon erlebt.
Sie antwortete mit einem unbestimmten Schulterzucken und wandte sich wieder dem Notizbuch vor ihr auf dem Tisch zu. Sie wollte die Seite in die Rubriken »Pro« und »Kontra« teilen. Eine Liste. Noch immer war sie die Meisterin der Listen.
»Wie darf ich diese Geste deuten?« Der Mann ahmte Georgias Schulterzucken nach und setzte dabei ein spöttisches Grinsen auf.
»Dass es mir im Augenblick ziemlich schnurzegal ist, ob jemand telefoniert, okay?«
»Auch gut.« Er stach mit seiner Gabel in den Berg Algensalat, der vor ihm stand, und schaufelte sich eine üppige Portion davon in den Mund. Dabei blieb ein schwarzer Seetangfaden an seinem Mundwinkel hängen und das Ingwerdressing lief ihm übers Kinn. Georgia schaute weg.
»So, bitteschön, meine Liebe.« Der Kellner war ein sommersprossiger Knabe, der keinen Tag älter als zweiundzwanzig aussah und damit viel zu jung, um jemand »meine Liebe« zu nennen. Schwungvoll stellte er ein Sandwich und einen Becher Grünen Tee vor Georgia hin. Seit ihrer Rückkehr aus Italien hatte sie ihre Schwierigkeiten mit dem amerikanischen Kaffee, der, und da musste sie den Italienern Recht geben, sehr oft zu lange geröstet oder bitter war, wenn er nicht ohnehin wie Abspülwasser schmeckte. Jede Zelle in ihrem Körper schrie nach Koffein – der Grüne Tee konnte es mit den vier Espressos am Tag, an die sie sich so sehr gewöhnt hatte, natürlich nicht aufnehmen. Der Handyhasser beäugte Georgias Essen und wandte sich ganz schnell wieder seinem eigenen Teller zu.
»Danke«, sagte Georgia und biss in das Feigen-Ricotta-Sandwich.
Nach ein paar Bissen schob sie den Teller zur Seite und
griff nach ihrem Kugelschreiber, ein elegantes Elsa-Paretti-Schmuckstück, selbstverständlich ein Geschenk von Glenn. Nach endlosem Hin und Her hatte sie beschlossen, dass es völlig in Ordnung war, Glenns Geschenke zu behalten, die er ihr im Laufe ihrer Beziehung gemacht hatte. Nach sieben Geburtstagen, Valentinstagen und Weihnachten, nicht zu vergessen die »Einfach so«-Präsente, hatte sich ganz schön was angesammelt. Erst vor ein paar Tagen hatte sie jede Handtasche, jeden Gürtel und jedes Paar Stiefel, die er ihr geschenkt hatte, mitten im Wohnzimmer auf einen Haufen getürmt.
»Blutgeschenke«, hatte Clem mit Blick auf eine echt coole Balenciaga-Tasche gespottet. Lo warf schnell ein, dass Georgia, sollte sie mal knapp bei Kasse sein, den ganzen Plunder bei Michael’s in Kommission geben könne, der Laden, in den sie selbst am Ende jeder Saison den halben Inhalt ihres Kleiderschrankes schleppe. Obwohl sie ständig ihre noble Herkunft verteufelte, liebte sie ausgedehnte Einkaufsbummel genauso wie alle anderen Park-Avenue-Prinzessinnen.
»The Tuscan Oven« schrieb Georgia über das »Pro« und »Kontra« und unterteilte das Blatt mit einem senkrechten Strich in der Mitte. Ganz automatisch rutschte ihre Hand zur rechten Spalte; es war immer leichter, mit den negativen Punkten zu beginnen.
Erniedrigend
Lage, Lage, Lage
Was, wenn jemand, den ich kenne, dort isst?
Was, wenn Glenn erfährt, dass ich dort arbeite?
Was, wenn Marco …?
Werden die Leute glauben,
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