Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
zurückgelassen hatte. Sogar die Schnappschüsse, die am Kosmetikspiegel steckten, waren dieselben. Ihre Sachen waren für sie aufbewahrt worden, doch statt ihr ein tröstliches und vertrautes Gefühl zu vermitteln, machten sie das Zimmer bedrückend. Die Wände rückten bedrohlich nahe. Sie musste hier raus.
Jetzt musste sie nur noch der Testamentseröffnung beiwohnen und natürlich ihrer Mutter beibringen, dass sie wieder abreiste. Gwen würde ihr Bestes tun, um ihrer Tochter Schuldgefühle zu bereiten, und Delaney freute sich nicht besonders auf die Konfrontation.
Sie verließ den Raum und stieg die Treppe hinab zu Henrys Arbeitszimmer, wo sein Testament verlesen wurde. Sie hatte sich ein bequemes ärmelloses T-Shirt-Kleid aus zartblauer Baumwolle angezogen und war in Plateaupantoletten geschlüpft, derer sie sich während der langen Autofahrt, die vor ihr lag, problemlos entledigen konnte.
Am Eingang zum Arbeitszimmer begrüßte sie Frank Stuart, einen langjährigen Freund Henrys, als wäre er der Portier im Ritz-Carlton. »Guten Morgen, Miss Shaw«, sagte er ehrerbietig, als sie den Raum betrat. Max Harrison, Henrys Nachlassverwalter,
saß hinter dem massiven Schreibtisch und blickte auf, als Delaney hereinkam. Sie schüttelte ihm die Hand und wechselte ein paar Worte mit ihm, bevor sie neben ihrer Mutter in der ersten Reihe Platz nahm.
»Wer fehlt denn noch?«, erkundigte sie sich, weil neben ihr noch ein Platz frei war.
»Nick.« Gwen seufzte und nestelte nervös an ihrer dreireihigen Perlenkette. »Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum Henry ihn in seinem Testament bedenken sollte. In den vergangenen Jahren hat er oft die Hand nach ihm ausgestreckt, doch Nick hat alle Versöhnungsversuche rüde abgewiesen.«
Also hatte Henry eine Versöhnung gewollt. Das überraschte sie nicht besonders. Da es Henry nicht gelungen war, mit Gwen einen legitimen Erben zu zeugen, war Delaney immer davon ausgegangen, dass er letzten Endes doch noch dem Sohn, den er stets ignoriert hatte, seine Aufmerksamkeit zuwenden würde.
Kurz darauf betrat Nick den Raum und wirkte mit einer anthrazitfarbenen Cordhose und einem gerippten Polohemd aus Seide im selben Farbton wie seine Augen fast seriös. Anders als auf der Beerdigung war er dem Anlass entsprechend gekleidet. Er hatte sich die Haare ordentlich zusammengebunden und seinen Ohrring zu Hause gelassen. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und setzte sich auf den Stuhl neben Delaney. Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an, doch er starrte stur nach vorn, die Füße auseinander, die Hände auf den Oberschenkeln. Der saubere Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit er sie am Abend zuvor »Wildkatze« genannt hatte. Danach hatte sie ihn den ganzen Weg zum Haus ihrer Mutter mit Nichtbeachtung gestraft und dieselbe Scham empfunden, die sie schon vor Jahren überwunden geglaubt hatte. Auch jetzt hatte sie nicht die Absicht, mit diesem Idioten zu reden.
»Vielen Dank für Ihr Erscheinen«, begrüßte Max die Runde und zog Delaneys Aufmerksamkeit auf sich. »Um Zeit zu sparen, möchte ich Sie bitten, sich mit allen Fragen zurückzuhalten, bis ich fertig bin.« Er räusperte sich, stieß die Dokumente vor sich bündig, und begann mit seiner ruhigen Anwaltsstimme: »›Ich, Henry Shaw, wohnhaft in Truly, Valley County, Idaho, erkläre dies zu meinem Letzten Willen und widerrufe damit alle Testamente samt Nachträgen, die ich zuvor verfasst habe.
Artikel eins. Ich bestimme meinen getreuen Freund Frank Stuart als Testamentsvollstrecker. Ich verfüge, dass kein Testamentsvollstrecker oder Nachfolger in dieser Funktion in die persönliche Haftung genommen wird …‹«
Delaney fixierte einen Punkt hinter Max’ Kopf und hörte nur mit halbem Ohr zu, während er den Teil des Testaments verlas, der die Pflichten des Testamentsvollstreckers umriss. Die Pflichten des Testamentsvollstreckers kümmerten sie nicht die Bohne. Sie hatte ganz andere Probleme. Wie zum Beispiel ihre Mutter, die auf ihrer einen Seite saß, und Nick auf der anderen. Die beiden konnten einander nicht ausstehen. Das hatten sie noch nie gekonnt, und die Spannung im Raum war fast mit den Händen greifbar.
Nicks Schulter streifte Delaneys, als er die Ellbogen auf die Armlehnen seines Stuhls legte. Dabei strich sein Hemd kurz über ihre nackte Haut. Delaney zwang sich stillzuhalten, als hätte die Berührung gar nicht stattgefunden, als hätte sie den weichen
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