Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
Geschäftsviertel hatte sich inzwischen vervierfacht, und die Altstadt war verschönert worden. Es gab jetzt zwei öffentliche Bootsrampen, um die Invasion von Booten und Jet-Skis bewältigen zu können, und die Stadt hatte drei neue Parks anlegen lassen. Doch außer diesen Veränderungen gab es noch zwei unübersehbare und verräterische Zeichen, dass die Stadt in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts angekommen war. Erstens gab es jetzt einen »Mountain Java Espresso Shop«, der sich zwischen »Sterling-Immobilien« und dem »Grits and Grub Diner« befand. Und zweitens war die alte Sägemühle zu einer kleinen Brauerei umgebaut worden. Als Delaney früher in Truly gelebt hatte, tranken die Leute nur Folgers und Coors. Sie hätten einen großen Latte macchiato mit Magermilch als »Memmengesöff« bezeichnet und jeden windelweich geprügelt, der sich traute, das Wort »Himbeerbier« in den Mund zu nehmen.
Es war der vierte Juli, und die Stadt erstickte in Patriotismus. Rot-weiß-blaue Flaggen und Bänder schmückten alles vom »Willkommen in Truly«-Banner bis zu dem hölzernen Indianer, der vor Howdy’s Handelsposten stand. Später würde es natürlich einen Umzug geben. In Truly gab es Umzüge zu so gut wie jeder Gelegenheit. Vielleicht würde sie in der Innenstadt bleiben und sich das Spektakel ansehen. Es war ja nicht so, als hätte sie etwas anderes vor.
An der Ecke Beaver und Main blieb Delaney stehen und ließ ein Wohnmobil vorbeirumpeln. Sie griff in die Tasche und belohnte Duke und Dolores mit Schmackos, weil sie so schön bei Fuß gingen. Es hatte sie mehrere frustrierende Wochen gekostet, ihre Rolle als Alphatier geltend zu machen und ihnen beizubringen, wer hier der Chef war. Aber sie hatte die Zeit
dafür gehabt. In den vergangenen Wochen hatte sie versucht, wieder Kontakt zu ein paar alten Schulfreundinnen aufzunehmen. Aber die waren alle verheiratet, hatten Familie und bestaunten sie wie einen Freak, weil sie keine hatte.
Sie hätte gern mehr Zeit mit Lisa verbracht, doch anders als Delaney hatte Lisa einen Job und einen Verlobten. Sie hätte sich gern mit ihrer alten Freundin zusammengesetzt und mit ihr über Henrys Testament und den wahren Grund gequatscht, weshalb sie wieder in Truly war. Doch sie wagte es nicht. Wenn der Inhalt durchsickerte, würde ihr Leben zur reinsten Hölle und sie selbst zum Gegenstand endloser Spekulationen und nicht enden wollenden Klatsches. Und wenn der Teil des Testaments, der Nick betraf, bekannt würde, müsste sie sich vermutlich umbringen.
Wahrscheinlich würde sie sowieso schon vor Langeweile krepieren, bevor das alles vorbei war. Sie verbrachte ihre Tage damit, geistlose Talkshows zu gucken oder Duke und Dolores Gassi zu führen, um aus dem Haus zu kommen und dem trostlosen Leben zu entfliehen, das ihre Mutter für sie geplant hatte. Gwen hatte nämlich beschlossen, dass Delaney, da sie nun ein Jahr in Truly bleiben würde, sich für dieselben Projekte engagieren, denselben Vereinen beitreten und denselben Bürgerversammlungen beiwohnen könnte wie sie. Sie war sogar so weit gegangen, Delaney als Vorsitzende des Komitees vorzuschlagen, das sich mit dem Drogenproblem im Truly befasste. Delaney hatte das Angebot höflich abgelehnt. Erstens war das Drogenproblem in Truly lachhaft. Und zweitens hätte Delaney lieber sonst etwas getan, als sich in der Gemeinde zu engagieren.
Sie lief mit den Hunden die Hauptstraße entlang und kam an einem Feinkostgeschäft und einem T-Shirt-Laden vorbei. Beides waren die neuesten Errungenschaften im Stadtzentrum, die
dem Fußgängerverkehr nach zu urteilen gute Geschäfte machten. In ihren Lycra-Slingpumps, deren Sohlen an ihre nackten Fersen klatschten, lief sie an einem winzigen Buchladen vorbei, an dessen Tür ein Poster klebte, das für ein bevorstehendes R&B-Festival warb. Das Plakat überraschte Delaney, und sie fragte sich, wann die Stadt John Denver für James Brown aufgegeben hatte.
Sie blieb vor einem schmalen einstöckigen Haus stehen, das von einer Eisdiele und den »Allegrezza-Bau«-Büros flankiert war. Auf dem großen Tafelglasfenster prangten die Worte: »Glorias VorHair-NachHair. Jeder Schnitt mit Styling $ 10«. Delaney fand, dass das nicht gerade für Glorias Fähigkeiten sprach.
Duke und Dolores setzten sich, und sie kraulte sie hinter den Ohren. Sie beugte sich vor und spähte durch das riesige Tafelglasfenster, um sich die Friseursessel aus rotem Kunstleder genauer anzusehen. Ihr war aufgefallen, dass der
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