Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
flachlegen ließen und sich danach wie Jungfrauen gebärdeten. Sie hatte sich immer von zu Hause fortgeschlichen und an der Hintertür des Lomax-Lebensmittelladens gekratzt, wo er nach Geschäftsschluss jobbte und den Boden kehrte. Wenn er in der Stimmung war, hatte er sie reingelassen und auf einer Frachtkiste oder auf der Kassentheke gevögelt. Danach führte sie sich so auf, als hätte sie ihm einen Gefallen getan. Dabei hatten sie beide gewusst, dass es genau andersrum war.
Die kühle Nachtluft wehte ihm das Haar um die Schultern und streifte über seine nackte Haut. Er nahm die Kälte kaum wahr. Delaney war wieder da. Als er von der Sache mit Henry hörte, hatte er sich schon gedacht, dass sie zur Beerdigung nach Hause kommen würde. Trotzdem war es ein Schock gewesen, sie auf der anderen Seite des Sarges stehen zu sehen, die Haare in etwa fünf Rottönen gefärbt. Auch nach zehn Jahren erinnerte sie ihn noch an eine Porzellanpuppe, glatt und zart wie Seide. Ihr Anblick wühlte wieder alles in ihm auf, und er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Damals waren ihre Haare noch blond, und sie war sieben Jahre alt.
An jenem Tag vor über zwanzig Jahren hatte er gerade im Tasty Freeze in der Schlange gestanden, als er von Henry Shaws neuer Ehefrau erfuhr. Er konnte es nicht fassen! Henry hatte wieder geheiratet. Und da alles, was Henry tat, Nick brennend interessierte, waren sein älterer Bruder Louie und er auf ihre
alten Fahrräder gesprungen und um den See zu Henrys riesigem viktorianischem Haus gestrampelt. Mit dem Schwirren seiner Fahrradräder hatte Nick auch der Kopf geschwirrt. Er hatte ja gewusst, dass Henry seine Mutter nie heiraten würde. Sie hassten sich schon, solange Nick denken konnte. Sie sprachen nicht einmal miteinander. Meist ignorierte Henry Nick einfach, doch das änderte sich jetzt vielleicht. Vielleicht mochte Henrys neue Frau Kinder. Vielleicht mochte sie ihn.
Nick und Louie versteckten ihre Fahrräder hinter den Kiefern und krochen unter den dichten Kreuzdorn, der den terrassenförmig angelegten Garten einfasste. Diese Stelle kannten sie gut. Louie war zwölf, zwei Jahre älter als Nick, doch Nick war besser im Warten als sein Bruder. Vielleicht lag es daran, dass er daran gewöhnt war, oder weil sein Interesse an Henry Shaw persönlicher war als das seines Bruders. Die beiden Jungs machten es sich bequem und stellten sich aufs Warten ein.
»Der kommt nicht raus«, beschwerte sich Louie nach einer Stunde Observation. »Wir sind jetzt schon ewig hier, und der kommt nicht raus.«
»Früher oder später kommt der schon.« Nick sah seinen Bruder an und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Vorderseite des großen grauen Kastens. »Muss er ja.«
»Komm, wir fangen lieber Fische in Mr Benders Teich.«
Jeden Sommer besetzte Clark Bender seinen Gartenteich mit Bachforellen. Und jeden Sommer erleichterten ihn die Allegrezza-Jungs um zahlreiche, dreißig Zentimeter lange Prachtexemplare. »Mom wird echt sauer«, warnte Nick seinen Bruder, weil seine Erinnerung an letzte Woche, als sie ihm mit dem Holzlöffel auf die Handflächen geschlagen hatte, noch sehr frisch war. Normalerweise verteidigte Benita ihre Jungs wie eine Löwin. Doch selbst sie konnte Mr Benders Anschuldigungen
nicht mehr leugnen, als die zwei Jungs nach Fischinnereien stinkend von ihm nach Hause eskortiert wurden und mehrere ausgesuchte Forellen von ihren Stringernadeln baumelten.
»Das kriegt die gar nicht mit. Bender ist verreist.«
Nick sah Louie forschend an, und beim Gedanken an die vielen hungrigen Forellen juckte es ihn, seine Angelrute zu holen. »Ganz sicher?«
»Klar.«
Er dachte an den Teich und die vielen Fische, die nur auf einen Köder und einen scharfen Haken warteten. Doch dann hob er entschlossen den Kopf und biss die Zähne zusammen. Wenn Henry wieder heiratete, wollte Nick hierbleiben, um seine neue Frau zu sehen.
»Du spinnst doch«, meinte Louie angewidert und rutschte rückwärts aus dem Kreuzdorn.
»Gehst du angeln?«
»Nein, nach Hause, aber erst muss ich noch den Rüssel wringen.«
Nick grinste. Es gefiel ihm, wenn sein älterer Bruder so coole Sachen sagte. »Verrat Mom nicht, wo ich bin.«
Louie zog den Reißverschluss an seiner Hose auf und erleichterte sich seufzend an einer Gelbkiefer. »Bleib bloß nicht so lange weg, sonst kommt sie von allein drauf.«
»Nee.« Als Louie auf sein Fahrrad sprang und wegstrampelte, fixierte Nick wieder die Vorderfront des Hauses. Er stützte das
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