Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
Delaney zwischen Idaho und sich mindestens einen Staat Abstand einhielt.
»Ich brauche nichts, Mutter«, wehrte sie ab und aß ihr Frühstück auf. Wenn sie länger als ein paar Tage bliebe, würde Gwen sie zweifellos zu Liz Claiborne mitschleppen und zu einem angesehenen Mitglied der Charitable Society machen. In ihrer Jugend hatte sie ständig Kleider tragen müssen, die ihr nicht gefielen, und sich als jemand anders ausgeben müssen, als sie war, nur um es ihren Eltern recht zu machen. Sie hatte sich
ein Bein ausgerissen, um es auf die Liste der besten Schüler zu schaffen, und war bis dato noch nicht einmal für die Überziehung einer Bibliotheksleihfrist abgemahnt worden. Sie war als Tochter des Bürgermeisters aufgewachsen, und das hieß, dass sie perfekt sein musste.
»Sind die Schuhe nicht unbequem?«
Delaney schüttelte den Kopf. »Erzähl mir von dem Feuer«, bat sie, um das Thema zu wechseln. Seit ihrer Ankunft in Truly hatte sie nur sehr wenig darüber erfahren, was in der Todesnacht wirklich passiert war. Ihre Mutter sprach nur ungern davon, doch jetzt, wo die Beerdigung vorbei war, drängte Delaney auf Informationen.
Gwen griff seufzend nach dem Buttermesser, mit dem Delaney sich Konfitüre auf den Bagel geschmiert hatte. Die Absätze ihrer blauen Pumps klapperten auf den roten Backsteinfliesen, als sie zur Küchenspüle ging. »Ich bin jetzt auch nicht schlauer als letzte Woche, als ich dich angerufen habe.« Sie legte das Messer weg und sah aus dem großen Fenster über der Spüle. »Henry war in seinem Sattelschuppen, und der ist in Brand geraten. Sheriff Crow sagte mir, das Feuer sei wahrscheinlich durch einen Haufen Leinöllumpen entstanden, die Henry neben dem alten Heizgerät vergessen hatte.« Gwens Stimme zitterte.
Delaney trat zu ihrer Mutter und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie schaute hinaus in den Garten, zu dem Bootsdock, das auf den sanften Wellen schaukelte, und stellte die Frage, vor der sie sich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte: »Weißt du, ob er sehr leiden musste?«
»Ich glaube nicht, aber wenn doch, will ich es gar nicht wissen. Ich weiß nicht, wie lange er noch gelebt hat, oder ob Gott ihm gnädig war und ihn sterben ließ, bevor die Flammen ihn erreichten. Ich hab nicht danach gefragt. Die letzte Woche war
auch so schon schwer genug.« Sie hielt inne und räusperte sich. »Ich hatte sowieso schon so viel um die Ohren, und ich denke nicht gern darüber nach.«
Delaney schaute wieder ihre Mutter an, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten spürte sie eine Verbindung zu der Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte. Sie waren grundverschieden, doch eine Gemeinsamkeit hatten sie. Trotz seiner Fehler hatten sie beide Henry Shaw geliebt.
»Deine Freundinnen hätten bestimmt Verständnis dafür, wenn du das Meeting heute absagst. Wenn du möchtest, rufe ich sie für dich an.«
Gwen richtete ihre Aufmerksamkeit auf Delaney und schüttelte den Kopf. »Ich habe Verpflichtungen, Laney. Ich kann mein Leben nicht ewig auf Eis legen.«
Ewig? Henry war noch nicht einmal eine Woche tot, noch keine vierundzwanzig Stunden unter der Erde. Das Gefühl der Verbundenheit mit ihrer Mutter schwand schlagartig, und sie nahm abrupt die Hand von ihrer Schulter. »Ich muss mal kurz an die frische Luft«, murmelte sie und trat durch die Hintertür nach draußen, bevor die Enttäuschung sie völlig überwältigte. Sie atmete tief durch und überquerte die Terrasse.
Enttäuschung war wohl das Wort, womit man ihre Familie am besten beschreiben konnte. Sie hatten stets eine Fassade aufrechterhalten, sodass sie einander zwangsläufig enttäuschen mussten. Delaney hatte sich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass ihre Mutter oberflächlich und viel mehr an Äußerlichkeiten interessiert war als an inneren Werten. Und sie hatte akzeptiert, dass Henry ein richtiger Kontrollfreak war. Solange sie Henrys Erwartungen entsprach, war er ein wunderbarer Vater gewesen, hatte ihr Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt und ihre Freunde und sie zu Bootsfahrten oder zum Zelten in die Sawtooths mitgenommen. Doch das Leben der Shaws hatte
auf dem Prinzip Leistung und Gegenleistung beruht, und dass alles, auch Liebe und Zuneigung, nur unter gewissen Bedingungen gewährt wurden, hatte sie stets enttäuscht.
Delaney lief an einer hochgewachsenen Gelbkiefer vorbei zu dem riesigen Hundegehege ganz am Ende des Gartens. Zwei Namensschilder aus Messing, die über der Zwingertür angenagelt waren, wiesen darauf hin,
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