Küstenfilz
Schluck. Lüder ließ den roten Rebensaft über die Zunge rollen. Es war ein
ehrlicher Wein, der gut zu einer Unterhaltung passte.
Windgraf drehte das
Glas in der Hand, hielt es gegen die schon tiefer stehende Sonne und sagte
unvermittelt: »Es geht um Atomkraft.«
»Was?« Lüder war so
erstaunt, dass er zunächst nur dieses eine Wort hervorbrachte.
»Sie haben richtig
gehört: Atomkraft.«
»Sie wollen doch
nicht behaupten, dass an der Schlei ein Atomkraftwerk gebaut werden soll?«
»Nun einmal langsam«, dämpfte Windgraf Lüders Erregung. »Vorerst werden nur Überlegungen
angestellt.«
»Das verstehe ich
nicht. Es gibt doch eine eindeutige Aussage der Regierung, dass der Ausstieg
aus der Atomkraft beschlossen ist.«
Windgraf nickte.
»Das trifft zu. Das sind die Nebelkerzen für das Volk. Denken Sie an Franz
Münteferings Empörung, dass es unfair wäre, wenn der Bürger nach der Wahl auf
die Einhaltung der Wahlaussagen bestehen würde. So wird jetzt an verschiedenen
Stellen darüber nachgedacht, ob der Ausstieg aus der Kernenergie richtig war.«
»Das war aber in
einem anderen Zusammenhang, ich meine, die Aussage von Münte«, warf Lüder ein.
»Mag sein. Aber
inzwischen haben sich viele Parameter geändert. Wir müssen uns die Frage
gefallen lassen, ob der Verzicht auf Kernenergie nicht zu ideologisch geprägt
war. Jedenfalls haben viele Verantwortliche auf dem Energiegipfel erkannt, dass
alternative Energie unseren steigenden Hunger nach Strom nicht decken kann. Und
fossile Energieressourcen sind auch nur begrenzt einsetzbar. Die Stromversorgungslücke
muss irgendwie geschlossen werden. Öl und Gas werden immer teurer, und die
Reserven schwinden. Und mit Wind und Wasserkraft oder Solarstrom sind Sie von
den Kosten her weder wettbewerbsfähig noch versorgungssicher. Wie wollen Sie in
einer windstillen Winternacht den hohen Bedarf decken?«
Windgraf wurde durch
Kirchenglocken unterbrochen, die von einem Berghang hinter dem Bahndamm
herüberschallten. Es war ein heller Ton, der durch seine schnelle Abfolge fast
ein wenig hektisch klang und sich vom sonoren Bimbam der alten Dorfkirche im
Zentrum des Ortes unterschied.
Der ehemalige
Staatsekretär trank sein Glas aus und verteilte den Rest aus der Flasche auf
die beiden Gläser. Unter den grünen Sonnenschirmen der Hotelterrasse erspähte
er Claudius und schwenkte die leere Flasche als Zeichen dafür, dass sie eine
neue wünschten.
Lüder war erstaunt,
wie schnell sie den Dornfelder ausgetrunken hatten.
Windgraf reckte sich
und streckte dabei beide Arme in die Luft. »Schön, nicht wahr? Viele Menschen
freuen sich über die Wärme und können nicht verstehen, weshalb sich
wissenschaftliche Mahner über zwei läppische Grad Erderwärmung aufregen. Und
den CO 2 -Ausstoß,
beispielsweise durch Braunkohlekraftwerke, riecht man nicht. Wir haben ja das
Russengas als Alternative, werden Sie sagen. Aber wie zuverlässig können wir
auf die Russen bauen? Wer kennt die politische Entwicklung? Die arabische Welt
hat das Erdöl auch als Machtinstrument entdeckt. Nein! Neue Atomkraftwerke
müssen an neuen Standorten entstehen, weil sich bis 2100 das Klima global in
Deutschland erwärmen wird, in West- und Süddeutschland, aber auch im Nordosten.
Dort könnte es zu Problemen mit dem Kühlwasser kommen. Man rechnet mit einer
globalen Erwärmung um zwei Komma fünf bis drei Grad. Das bedeutet heiße Sommer
und im Winter mehr Niederschläge und eine erhöhte Hochwassergefahr. Die
Energieversorgung sollte aber unabhängig von anderen Regierungen und sicher
sein. Das können idealerweise Atomkraftwerke leisten.«
Windgraf hatte sich
bei seinem Vortrag richtiggehend ereifert. Lüder spürte, dass seinem Gegenüber
das Thema am Herzen lag. Es klang nicht wie das inhaltlose Herunterreden eines
Politikers auf einer Wahlkampfveranstaltung.
»Und weil Sie sich
dafür eingesetzt haben, hat man Sie erpresst. Sind die Atomkraftgegner so
mächtig?«
Windgraf lachte auf.
Es klang ein wenig zu schrill und irritierte den jungen Mann vom Hotel, der
ihnen die neue Flasche Dornfelder brachte.
»Ist alles in
Ordnung?«, fragte Claudius höflich.
»Ja, vielen Dank«,
antwortete Lüder.
»Das ist das
Paradoxe an dieser ganzen Sache. Auch wenn ich eben ein Plädoyer für die
Atomkraft gehalten habe, bin ich der Überzeugung, dass die Gefahren, die davon
ausgehen, zu groß sind. Die graue Theorie der Atomgefahr ist schon längst
Wirklichkeit geworden. Die Verantwortlichen haben nicht
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