Kultur 08: Der Algebraist
ganz offensichtlich Wert darauf legte, sich von
allen anderen zu isolieren.
Trotz alledem war der Mythos der Dweller-Liste für die
Allgemeinheit und erst recht für die
Verschwörungstheoretiker nach wie vor ein aufregendes Thema.
Besonders in diesen schwierigen und gefährlichen Zeiten
wäre es mehr als großartig gewesen, wenn solch ein
geheimes Wurmlochnetzwerk existiert hätte.
Fassin war sich mit den Fachbüchern darüber einig, dass
die Liste nicht zufällig zum ersten Mal während des
Burster-Krieges aufgetaucht war, als die ganze galaktische
Gemeinschaft auseinander zu fallen drohte und man sich auch noch an
den letzten Strohhalm klammerte. Damals war die Gesamtzahl der
Portale von fast 39.000 – einem Stand, der nie mehr
übertroffen werden sollte – auf knapp tausend
zurückgegangen. Im Dritten Chaos wurde mit galaxisweit weniger
als hundert Löchern die Talsohle erreicht, aber die Dweller
waren nicht eingesprungen und hatten etwa ihr geheimes System zur
Nutzung freigegeben. Wenn nicht in einem Augenblick, da das Licht der
Zivilisation auf der großen Linse vollends zu erlöschen
drohte, wann denn? Würden sie der Galaxis überhaupt jemals
aus irgendeinem Grund zu Hilfe eilen?
Zum Teil bestand die Faszination der Liste in ihrer
Größe. Angeblich enthielt sie mehr als zwei Millionen
Portalkoordinaten, das hieß, mehr als eine Million Arteria,
die, so nahm man an, zu einem einzigen allumspannenden Netzwerk
verbunden waren. Auf dem Höhepunkt des Dritten Komplexes
achttausend Jahre früher hatten genau 217.390 bekannte
Wurmlöcher die Galaxis zusammengehalten, und soweit man wusste,
war dies das dichteste Netz aller Zeiten gewesen. Wenn die
Dweller-Liste tatsächlich existierende Portale und Arteria
aufführte, könnte mit ihr der größte Wandel in
der Geschichte der Galaxis eingeleitet werden. Man könnte auf
einen Schlag zwei Millionen Systeme miteinander vernetzen, von denen
viele noch nie in Verbindung gestanden hatten. Man könnte fast
alle Bewohner überall zusammenführen – noch der
entlegenste, isolierteste Stern wäre höchstens ein bis zwei
Jahrzehnte vom nächsten Portal entfernt. Und man könnte
kurzerhand die gesamte galaktische Gemeinschaft Wiederaufleben
lassen, in einem Ausmaß, wie es in fast zwölf Milliarden
zäher, immer wieder stockender Zivilisierung noch nicht da
gewesen war.
Doch Fassin und die meisten seiner Seherkollegen hielten solche
Hoffnungen schon seit langem für unbegründet. Die Dweller
brauchten keine Wurmlöcher, und nichts wies darauf hin, dass sie
welche benützten. Als Dweller behaupteten sie natürlich,
Experten der Arteria- und Portal-Technik zu sein, und sie hatten
sicherlich auch keine Angst vor Wurmlochreisen, sie sahen nur einfach
keine Notwendigkeit dafür… aber selbst wenn sie sich jemals
ernsthaft mit dem Wurmlochbau beschäftigt hätten,
wären diese Zeiten längst vorbei. Außerdem wäre
man mit der Liste selbst, die seit hunderten von Jahrmillionen in
zahllosen Kopien in Bibliotheken und Datenspeichern herumlag, so dass
jeder mit einem entsprechenden Datenanschluss darauf zugreifen
konnte, noch längst nicht am Ziel; sie enthielt nur grob die
Koordinaten von zwei Millionen Gasriesen in zwei Millionen Systemen.
Man brauchte aber präzise Angaben.
Die naheliegendsten Stellen für eine Suche wären die
jeweiligen Trojanischen oder Lagrange-Punkte gewesen,
gravitationsstabile Zonen auf und zwischen den Bahnen der
verschiedenen Planeten in den angegebenen Systemen. Doch diese
Möglichkeiten hatte man längst eliminiert. Danach wurde es
schwieriger. Theoretisch konnte man eine Wurmlochmündung in
jedem stabilen Orbit irgendwo im System absetzen, wo sie unentdeckt
bliebe, falls nicht jemand durch Zufall darüber stolperte.
Aktive Portale waren bis zu einem Kilometer breit und hatten eine
effektive Masse von mehreren hunderttausend Tonnen. Ein geschrumpftes
und stabilisiertes Portal mit relativ einfachen automatischen
Systemen, die dafür sorgten, dass es auch in diesem Zustand
blieb, hinterließ dagegen nur eine Gravitationssignatur von
weniger als einem Kilogramm und konnte mehr oder weniger unbegrenzt
lange in einem Orbit kreisen, der so weit draußen lag wie die
Oort’sche Wolke eines Systems. Die Schwierigkeit war nur, den
Ort adäquat zu beschreiben.
Angeblich existierte noch ein weiterer Koordinatensatz oder auch
eine einzelne mathematische Operation, eine Transformation, die wie
von Zauberhand die genauen Positionen der Systemportale
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