Kunst des Feldspiels
kennen. Sie sah entfernt aus wie ihr Bruder – derselbe schlanke Hals,
dieselbe vornehme Haltung, dieselben weichen Gesichtszüge und blassblauen
Augen. Sie sah älter aus als das Mädchen auf dem verblichenen Foto über Henrys
Schreibtisch, beinahe erwachsen, aber gleichzeitig genauso dürr und unbedarft
wie Henry, als er nach Westish gekommen war. Die Skrimshanders waren
Spätzünder. »Wo ist Henry?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich mit dem
Rest der Mannschaft im Carapelli’s. Ich bin jetzt auf dem Weg.«
»Den Rest der
Mannschaft hab ich gesehen«, widersprach Sophie. »Henry war nicht dabei. Ich
dachte, er ist bei dir.«
Verdammter Mist.
Schwartz griff nach seinem Telefon – sein erster Impuls war, Owen anzurufen,
aber er wollte nicht, dass Sophie wusste, dass er nicht wusste, wo Henry war.
Er schrieb stattdessen eine Nachricht: H bei euch? »Dein Bruder benutzt gern den Feuerausgang«, log er. »Eins seiner Rituale. Wo
sind deine Eltern?«
Sophie rollte mit den
Augen. »Mom hat Dad zurück ins Hotel geschleppt, damit er Henry nicht anbrüllt.
Der hätte fast einen Herzinfarkt bekommen.« Sie verstellte ihre Stimme zu einem
Grummeln. »Der Junge hat einfach hingeschmissen. Sein Team
im Stich gelassen. Er hat’s nicht anders verdient.«
»Er wird sich schon
beruhigen.«
»Irgendwann schon.
Jedenfalls schlafen wir alle in einem Zimmer. Ich halt mich von da fern.«
Schwartz wusste nicht
recht, was zu tun war. Er konnte Sophie zum Mannschaftsessen mit ins
Carapelli’s nehmen, sie könnte Aparicio Rodriguez kennenlernen, es würde
niemandem etwas ausmachen – aber ihm dämmerte bereits, dass Henry womöglich
nicht dort sein würde. Dass er womöglich weg war. Was auch immer weg auf diesem kleinen Campus heißen mochte.
Das Telefon in seiner
Hand trillerte. Er erwartete, dass es Owen war, aber das Display zeigte seine
eigene Festnetznummer an.
»Hallo?«
»Hey«, sagte Pella. »Wo
bist du?«
»Vor dem VAC .«
»In deinem
Lieblingshandtuch?«
Schwartz brauchte ein
paar Sekunden, um die Anspielung zu verstehen.
»Ich muss dringend mit
dir sprechen. Kommst du bald nach Hause?«
»Ich muss zum
Mannschaftsessen. Gegen zehn bin ich da.«
»Könnten wir uns
irgendwo treffen? Tut mir leid, Mike, ich weiß, du hattest einen harten Tag.
Aber ich brauche wirklich deinen Rat. Es geht um meinen Vater.«
»Tut mir leid«, sagte
er. »Gegen zehn bin ich da.«
Pella seufzte. »Okay.
Ist es in Ordnung, wenn ich hier warte?«
Sophie hatte sich ein
paar Schritte entfernt auf die unterste Treppenstufe gesetzt und starrte auf
die Spitzen ihrer schnürsenkellosen Turnschuhe, die einen Takt schlugen.
Schwartz konnte sie weder zu ihren Eltern schicken noch mitnehmen noch einfach
hierlassen. Er wollte gerade auflegen, als ihm eine Idee kam.
»Ich soll was machen?«, sagte Pella klagend.
»Du hast mich
verstanden.«
»Du machst Witze. Mike,
mein Tag war schon komisch genug.«
Schwartz machte keine
Witze. »Zieh dich um«, sagte er zu Sophie, als er auflegte. »Pella holt dich in
einer halben Stunde hier ab.« Er drückte ihr zwei von Coach Cox’ Hundertern in
die Hand. »Sag ihr, du willst ins Maison Robert.«
53
—
Nach dem Essen suchten Schwartz und Owen die Bibliothek
und den Studentenclub ab – sonst hatte samstagabends nichts geöffnet –, fanden
aber keine Spur von Henry. In seinem Zimmer und bei seinen Eltern war er auch
nicht. Henrys Mutter hatte Owen auf dem Handy angerufen, weil sie ihn ebenfalls
suchte, und er hatte ihr gesagt, Henry mache einen Spaziergang.
Sie gingen zum VAC und durchsuchten das
ganze Gebäude einmal von unten nach oben, wobei sie alle Lichter einschalteten,
und dann noch einmal von oben nach unten, wobei sie sie wieder ausschalteten.
Als sie gingen, verschloss Schwartz die Tür. Eine leichte, aber eiskalte Brise
wehte in westlicher Richtung vom See her. »Das gefällt mir nicht«, sagte
Schwartz. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Henry ist erwachsen«,
sagte Owen. »Na ja, beinahe erwachsen. Er will jetzt vermutlich einfach allein
sein.«
»Ich erlaube ihm nicht, allein zu sein. Nicht ohne uns zu sagen,
wo er ist.« Schwartz hielt seine Uhr in das kalte blaue Glimmen einer
Nachtleuchte. »Der Bus nach Coshwale fährt in acht Stunden.«
»Vielleicht sollten wir
zum Tatort zurückkehren.«
Sie sahen im Westish
Field nach und dann in der riesigen Steinschüssel des Footballstadions. Nichts.
Es brannte wenig elektrisches Licht in der Nähe, und die zwischen
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