Kunstgriff
an einer langen Halskette unter der Kleidung verborgen trug. Bereitwillig wiederholte sie das Versprechen, sich sofort zu melden, wenn der Doktor sich aus dem Staub machte.
Zur Mittagszeit würde Regert etwa zehn Minuten vom Dichterviertel bis zum Rheinufer brauchen. Genug Zeit, sich in aller Ruhe zurückzuziehen. Der Garten war von außen nicht einzusehen. Trotzdem duckte sie sich unwillkürlich, als sie auf den Kellerabgang zu lief. Eine modrige Laubschicht überzog die steilen Stufen, als wäre die Treppe seit Jahren nicht benutzt worden. Vorsichtig stieg Norma hinunter. Die Kellertür sah aus, als genüge ein herzhafter Tritt, leistete jedoch einen verblüffenden Widerstand. Gleich beim ersten Versuch verkeilte sich das Einbruchswerkzeug im verrosteten Schloss. Norma fluchte leise. Als sie an der Klinke rüttelte, hielt sie diese gleich in der Hand. Zwecklos!
Also blieb nur ein Fenster! Sie kletterte über den Laubhügel wieder nach oben und hob das Gitter vom erstbesten Kellerschacht. Hier war nichts extra gesichert, und die einfache Scheibe zerbarst unter ihrem Tritt mit leisem Klirren. Mit einem Ast schlug sie die Splitter heraus, bis sie hindurchgreifen und den Flügel von innen öffnen konnte. Bevor sie einstieg, schaute sie sich um. Ihr Herz raste. Die emsige Geschäftigkeit hatte sie die Gefahr beinahe vergessen lassen. Schlagartig wurde ihr bewusst, was sie vorhatte. Dieser Einbruch war ein anderes Kaliber als das Herumstöbern in den Zimmern ihrer WG-Genossen. Das könnte sie ihre Lizenz kosten, von allen anderen Konsequenzen einmal abgesehen. Regert schien kaum Spaß zu vertragen, und körperlich hätte sie gegen ihn wenig Chancen. Er war bestens in Form und besaß Oberarme wie ein Gewichtheber. Sie kontrollierte mit einem Blick aufs Mobiltelefon, ob sie im Eifer womöglich Ninas Anruf verpasst hatte. Das Display zeigte keinen Eingang an.
Dann los! Mit den Füßen zuerst landete sie in einer Kammer und klinkte die kleine Stablampe, ihre zweite Waffe neben dem Taschenmesser, aus dem Hosengürtel. Sogleich sah sie sich dem nächsten Hindernis gegenüber, das sich als nichtig entpuppte. Die Lattentür war nicht abgeschlossen. Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Kellerflur und stieg die Treppe hinauf. Oben hielt sie inne und lauschte. Ein rhythmisches Ticken klang durch das Holz: Eine Standuhr. Nichts sonst war zu hören.
Sie legte die Hand auf die Klinke. Was ist los mit mir?, fragte sie sich. Wieso spiele ich hier die abgebrühte Einbrecherin? Dieselbe Norma Tann, die im Kreis ihrer früheren Kollegen und Freunde in Panik verfiel und in dieser Geistervilla allen Grund hätte, vor Aufregung zu sterben, vertraute fest auf ihre schnellen Reaktionen, ihre Wahrnehmung und ihren Verstand, ungeachtet dessen, dass ihr das Herz bis zum Haaransatz schlug. Wie ein fehlgeleitetes Immunsystem, das vehement gegen Blütenpollen Sturm läuft, kämpfte ihr Geist gegen Schattenfeinde, anstatt sich der wahren Risiken bewusst zu werden, ging es ihr durch den Kopf, während das Adrenalin ihren Körper durchströmte und ihre Sinne schärfte.
Schnell und routiniert verschaffte sie sich einen Überblick. Regert bewohnte zwei Räume im Erdgeschoss, ein Schlafzimmer mit einer einfachen Liege und ein Arbeitszimmer, ausgestattet mit Büchern, Computer und Fernsehgerät. Lebensmittel und Kochgeschirr ließen darauf schließen, dass er sich häufig in der Küche aufhielt, deren auffälligstes Einrichtungsstück eine riesige Kühltruhe war. Im altmodischen Badezimmer fanden sich Handtücher, Rasierapparat und andere übliche Utensilien – nichts Bemerkenswertes. Alle anderen Räume waren so leer und aufgeräumt wie die Zimmer in den oberen Etagen, in denen abgesehen von den vergilbten Tapeten, den fadenscheinigen Gardinen und Vorhängen nichts aus dem Besitz früherer Bewohner übrig geblieben war.
Sie wollte im Arbeitszimmer anfangen und sich nach und nach die anderen Räume vornehmen. Solange Nina keinen Alarm schlug, durfte sie in aller Ruhe herumstöbern. Mit der Handykamera begab sie sich in die Zimmermitte und fotografierte Wände und Ecken, um die Einzelheiten festzuhalten, die ihr auf die Schnelle entgehen mochten. Wie hatte Wolfert gesagt? Die Sonderkommission ging den unwahrscheinlichsten Spuren nach. Das sah Norma nicht anders. Sie hoffte, die dünne Fährte nach Wisconsin würde sie endlich voranbringen.
Noch immer keine Warnung! Vorsichtshalber rief sie noch einmal in der Galerie an. Nina meldete sich umgehend.
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