Kunstgriff
Zufall zu Hilfe gekommen ist.«
Er blickte sich zu Undine um. »Ich muss mich verabschieden. Ein Termin beim Staatsanwalt. Und du? Darfst du deine Freizeit genießen, oder verfolgst du bereits einen neuen Fall?«
»Zu tun gibt es immer«, antwortete Norma kryptisch, während sie sich fragte, wie er auf den Gedanken kommen konnte, der Fall sei abgeschlossen. Das Bild war zurückgekehrt, aber solange sie nicht wusste, wer es an sich genommen und wieder zurückgebracht hatte, war die Geschichte für sie nicht zu Ende.
34
Regert wohnte in der Rheingaustraße, die beim Biebricher Schloss ihren Anfang nahm, dem Lauf des Rheins folgte und so die Stadtteile Biebrich und Schierstein miteinander verband. Auf dieser Strecke entdeckte man Mehrfamilienhäuser zwischen Gewerbe- und Industrieanlagen und vereinzelt die Villen der Unternehmensgründer. Ein Dornröschenschloss wartete auf seine Erweckung. Umgeben von einem mannshohen Eisenzaun lag das verwunschene Grundstück dicht am Flussufer. Ein Dschungel aus düsteren Eibenhecken, himmelhohen Tannen und knorrigen Obstbäumen verbarg ein Märchenschlösschen mit Türmen und Erkern. Norma hatte sich durch eine Lücke im Zaun gezwängt und durch das Gestrüpp einen Weg bis zum früheren Rasen gebahnt, auf dem das Gras in hohen Büscheln stand, die ihr genügend Deckung boten. Nach ihren Recherchen wohnte Regert einsam und allein in der Villa, die einer Erbengemeinschaft gehörte. Angeblich konnten die Besitzer sich nicht einig werden, was mit dem Haus geschehen sollte. Regert zahlte eine symbolische Miete und sorgte dafür, dass sich keine ungebetenen Gäste niederließen, hatte Norma vor einigen Tagen von einem Nachbarn erfahren, dem gegenüber sie sich als Immobilienmaklerin auf der Suche nach lohnenswerten Objekten ausgab. Die Villa könne sie vergessen, hatte der Nachbar versichert. Alles sei marode und zu lange dem Verfall preisgegeben, und es wundere ihn nicht, den Herrn Doktor niemals in Begleitung zu sehen. Ein Abbruchhaus sei eben keine gute Adresse.
Norma zuckte zusammen, als es neben ihr im Laub raschelte. Eine Amsel, die unter den Büschen nach Futter stöberte und zeternd davonhuschte. Angespannt behielt Norma das Haus im Blick. Unter dem Dach und im Obergeschoss waren einige Scheiben zerbrochen, und die Fenster saßen wie hungrige schwarze Löcher in der Fassade. Im Erdgeschoss war alles heil geblieben, wie sie bei einem vorsichtigen Rundgang erkundet hatte. Das Haus besaß drei Eingänge: eine wuchtige Haustür, die Glastür zum Wintergarten und die Kellertür, zu der eine steile Treppe hinabführte. Norma beschloss, es dort zu versuchen. Sobald sie sicher sein konnte, dass der Herr Doktor nicht zu Hause war.
Sie verzog sich hinter eine Tanne und rief in der Galerie an. Eine matte Stimme meldete sich.
»Nina, du bist nicht in der Boutique?«, wunderte sich Norma.
»Hallo, Mieke … ähm, ich meine, hallo, Norma. Den Job habe ich geschmissen. Fürs Erste helfe ich meiner Mutter hier aus. Sie gibt sich schrecklich viel Mühe. In der WG halte ich es nicht aus, weil mich alles an Rico erinnert. Das hat nichts mit Daniel zu tun. Ich habe keine Angst vor ihm. Er hat bestimmt niemanden umgebracht!«
»Sei besser vorsichtig, solange wir es nicht genau wissen. Eine Frage, ist Dr. Regert vielleicht bei euch?«
Nina flüsterte voller Verachtung: »Der Doktor ist vorhin zurückgekommen. Er wollte sich bei Undine entschuldigen, weil er einfach abgehauen ist, behauptet er. Jetzt zoffen sich beide, was das Zeug hält. Zum Glück sind keine Kunden da.«
Sieh an!, dachte Norma, die Stimmung brodelt. Schlecht für Regert. Gut für Lutz. »Worum geht der Streit?«
»Er wirft ihr vor, sie ist undankbar! Worauf Undine wissen wollte, wofür sie ihm dankbar sein soll. Und dass sie froh ist, dass der Jawlensky wieder da ist. Und dafür muss sie nur Norma dankbar sein, hat sie gesagt. Darauf wusste der Doktor nichts zu sagen.«
»Wo sind sie jetzt?«
»Drüben im Nebenraum tuscheln sie herum. Vielleicht versöhnen sie sich wieder? Was weiß ich, was in denen vorgeht.«
»Würdest du mich bitte anrufen, wenn er das Haus verlässt?«
»Klar, mache ich.«
»Nina, das ist sehr wichtig! Ich muss mich auf dich verlassen können! Hast du meine Handynummer?«
»Klar doch, ist in meinem Handy eingespeichert«, versicherte Nina. Vor einigen Tagen erst, als die Welt für sie noch in Ordnung war, hatte sie Norma stolz das neue Mobiltelefon präsentiert; ein winziges Spielzeug, das sie
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