Kunstgriff
Pinselstrichen angedeutet.
Norma überlegte einen Augenblick. »Lisa Kümmel? War das nicht die junge Frau, die ihr eigenes Talent zurückstellte, um ihm in seinen letzten Jahren beizustehen?«
»Indem sie ihm den Pinsel an den Händen festband.« Lutz zeigte auf die lange Reihe kleinformatiger Gemälde. »Sie rührte ihm die Farben an. Ohne die aufopfernde Lisa würde es diese zauberhaften ›Meditationen‹ wohl kaum geben. Undine liebt diese Bilder ganz besonders.«
Lutz’ Lebensgefährtin, die Galeristin Undine Abendstern, galt als Expertin für die Expressionisten. Ihr großes Glück war ein eigener Jawlensky.
»Es wird sie ärgern, dass sie heute nicht dabei sein kann«, sagte Norma, um Freundlichkeit bemüht. Das Verhältnis zwischen ihr und der Galeristin ließ sich bestenfalls als neutral bezeichnen. »Obwohl sie so großzügig gespendet hat.«
»Nicht einmal Undine kann auf zwei Hochzeiten tanzen«, meinte Lutz gleichmütig. »Ein Opfer, das sie den jungen Südamerikanern sicher gern bringt.«
Sie war zu einer Ausstellung nach München gereist und wollte bis zum Abend zurück sein. Die Leidenschaft für die aufstrebende Kunstszene Südamerikas hatte sie mit Arthur geteilt, der in der Taunusstraße einen Kunst- und Antiquitätenhandel führte, bevor er ums Leben kam. Norma besaß ein Gemälde des Kolumbianers Pablo Lobo, das eine abstrakte Landschaft zeigte; in kräftig aufgetragenen und leuchtenden Naturtönen von Ocker über Oliv bis Rubinrot. Sie mochte es nicht.
Gemeinsam schlenderten sie an der Reihe der ›Meditationen‹ entlang.
»Undines ›Schweigendes Rot‹ soll auf Reisen gehen«, erzählte Lutz. »Das Kunstmuseum Basel möchte das Gemälde ausleihen.«
Norma beugte sich zu einem kleinformatigen Bild in düsteren Farben hinunter, das den Titel ›Erinnerung an meine kranken Hände‹ trug. »Undine wird hin- und hergerissen sein zwischen Sorge und Stolz. Wie eine Mutter, die ihr Kind auf Klassenfahrt schickt.«
Lutz lächelte vielsagend. »In Basel plant man eine Sonderausstellung über die Klassische Moderne. Sie konnte nicht ablehnen. Zumal es ihrem Ruf nicht schadet, ein so bedeutendes Werk zu besitzen.«
Unverhofft wechselte er das Thema und erkundigte sich nach der Wohnung in der Taunusstraße. Sie lag über den Geschäftsräumen und war nach Arthurs Tod unverändert geblieben, bis Norma sich vor Kurzem endlich aufraffte und die Zimmer räumen ließ. Dabei hatte ihr Josef Brunner, Arthurs ehemaliger Geschäftspartner, tatkräftig zur Seite gestanden.
»Und …?«, fragte Lutz zögernd. »Ist alles raus?«
»Ja, bis auf den letzten Karton. Josef hat ganze Arbeit geleistet.«
»Ich war dir keine Hilfe.«
»Lutz, du hast getan, was du tun konntest.«
Es war ihm schwer gefallen, den Besitz seines Sohnes durchzusehen – schwerer als ihr selbst, die in diesen Räumen über Jahre gelebt hatte. Sie war ein Vierteljahr vor Arthurs Tod ausgezogen, hatte das Zusammenleben nicht länger ertragen. Bald darauf überschlugen sich die Ereignisse. Arthur verschwand nach einem Streit mit Norma spurlos. Seine Leiche wurde Wochen später unter bizarren Umständen aufgefunden. Norma wurde Zeugin eines Mordes und geriet selbst in tödliche Gefahr; dramatische Ereignisse, die sie endlich für sich abschließen wollte. Zehn Monate waren seither vergangen, in denen sie einen Fall übernahm und dem Schicksal einer vermissten Rheingauer Winzertochter nachspürte. Und den Prozess gegen den Mörder vom Weinfest überstand. Wider Erwarten, ohne vor Gericht von Panikattacken überfallen oder – von den Erinnerungen überwältigt – die Stimme, den Verstand oder beides zugleich einzubüßen.
Sie hatte alles ausgehalten.
Nach dem Prozess, bei dem sie als Hauptzeugin aussagen musste, nahm sie die Wohnung in Angriff. Alles musste raus. Den Anstoß gab ein Kunde Josefs, der nach der Trennung von der Ehefrau eine neue Bleibe suchte. Auch mit der Wohnungsauflösung war Norma besser klargekommen, als sie erwartet hatte. Nachdem das geschafft war, fühlte sie sich wie schwerelos. Aufgetankt mit Energie. Weit fort waren die Angstzustände, die sie seit Kolumbien gepeinigt hatten. Sie wollte die Welt umarmen, dazu Lutz und am liebsten auch Josef Brunner, der ›Tanns Antik und Kunst‹ nun allein betrieb und damit begonnen hatte, Arthurs Möbel, überwiegend kostbare Antiquitäten, und die Kunstsammlung mit der gebotenen Diskretion zu verkaufen.
Lutz hielt vor dem nächsten Bild inne. »Ich könnte dir einen
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