Kupferglanz
dachte nur an die Rentnergruppen, die für elf Uhr eine Führung bestellt hatten. Fünf Minuten lang hörte ich mir sein Genörgel über die Behinderung seiner Geschäftstätigkeit und ehrlichen Arbeit an, zählte noch ein paarmal bis zehn, aber das half auch nichts.
« Es kommt Ihnen wohl gar nicht in den Sinn, Direktor Kivinen, dass wir hier auch nur unsere Arbeit tun! » Irgendwie unangenehm, den Mann anzubrüllen, der gestern Abend mein Gastgeber gewesen war. «Sie haben Frau Flöjt doch gekannt. Interessiert Sie überhaupt nicht, warum sie gestorben ist? Nun geben Sie schon den Turmschlüssel her und holen Sie die Gästeliste!»
«Der Turm ist völlig sicher, wenn man nicht auf die Brüstung klettert. Wenn sie da runtergefallen ist, kann man uns nicht dafür verantwortlich machen!» Kivinen ließ einen ‐ im Verhältnis zu der massiven Tür lächerlich kleinen ‐ Schlüssel in Järvis wartend ausgestreckte Hand fallen. «Und was wollen Sie mit der Gästeliste? Wollen Sie alle zweihundert Gäste verhören? Den Bürgermeister und den Gouverneur etwa auch?»
«Wir wollen nur herausfinden, wer Meritta Höjt zuletzt lebend gesehen hat. Wie ist sie überhaupt auf den Turm gekommen ? Ich habe so gegen neun an der Tür gerüttelt, da war sie zu.»
«Sie hatte doch einen Schlüssel», erklärte Kivinen mit größter Selbstverständlichkeit.
«Was?»
«Den hab ich ihr schon im Frühjahr gegeben. Sie … sie war gern auf dem Turm, vor allem, wenn die Sonne auf-oder unterging. Sie hatte vor, irgendwann mal die Aussicht von da oben zu malen. Überhaupt war sie auf dem Bergwerksgelände wie zu Hause, ich hatte ihr erlaubt, sich hier aufzuhalten, wann und wie sie wollte. Ihre Bilder sind immerhin auch eine Art Werbung für uns.» Kivinen sprach, als wolle er sich entschuldigen. Sein Blick wurde unstet, er schaute den Hang hinab, dann wieder zu Turunen, der sich an Merittas Leiche zu schaffen machte. Aus seinen toffeebraunen Augen war die Kälte verschwunden, jetzt wirkten sie eher ängstlich. In ein paar Minuten würde Trauer in ihnen aufsteigen.
So etwas sah ich nicht zum ersten Mal: Bei einer erschütternden Nachricht redeten die Leute erst von etwas Unwesentlichem, als könnten sie damit den Grund ihres Schocks zum Verschwinden bringen. Urplötzlich überfiel sie dann der Schmerz. So schien es auch Kivinen zu ergehen. Er ging ein Stück auf Meritta zu, wandte sich dann wieder ab, setzte sich auf die Motorhaube seines Autos, klopfte die Taschen ab, als suchte er nach Zigaretten, fand aber nur ein Päckchen Kaugummi, das er verwirrt anstarrte, bevor er sich ein Stück in den Mund schob.
Ich merkte, dass er sich bemühte, nicht zu Meritta hinzusehen ‐ erfolglos, als würde er von der Leiche angezogen. Ich erinnerte mich an Jaskas Andeutungen, Meritta und Kivinen hätten etwas miteinander gehabt.
«Darf ich sie sehen?», fragte Kivinen schließlich.
«Wenn der Arzt fertig ist. Wie steht es mit der Gästeliste ? » Vom Turm hörte ich Järvi und die Leute von der Spurensicherung, es klang, als stritten sie sich. Ich warf einen Blick nach oben. Einer der Männer saß auf der Brüstung, Järvi hielt ihn am Arm fest.
«Gehen wir ins Restaurant.» Kivinen sah aus, als sei ihm schlecht. Ich wollte ihm gerade folgen, als Turunen mir zurief: «Kallio, komm mal eben her!»
«Gehen Sie schon mal rein, ich komme gleich nach!», sagte ich zu Kivinen und setzte mich in Bewegung.
«Einiges kann man jetzt schon sagen», erklärte Turunen langsam und mit leiser Stimme. «Todesursache war meiner Meinung nach Genickbruch. Den holt man sich im Allgemeinen, indem man gegen etwas stößt, bei einem Verkehrsunfall zum Beispiel oder eben bei einem Sturz. Das Rückgrat ist wohl auch gebrochen.
Die Hüfte ist ganz merkwürdig verrenkt. Wenn man zu Boden geschlagen wird, landet man nicht in so einer Stellung. Am Kopf sind sonst keine Wunden, die zum Tod führen könnten. Nach der Leichenstarre zu schließen, ist sie seit einigen Stunden tot. Zwischen zwei und vier Uhr gestorben, würde ich schätzen.»
«Du glaubst also, sie ist runtergefallen?»
Turunen runzelte die Stirn. Ich hatte ihn gerade erst kennengelernt und wusste nicht, ob er bereit sein würde, Schlüsse zu ziehen.
«Gefallen … oder runtergestoßen», flüsterte Turunen. «Sie hat einige Prellungen, die offenbar vor dem Tod entstanden sind. Ein paar Nägel sind abgebrochen. Sag denen da oben, sie sollen danach suchen. Die Knöchel an der rechten Hand sind geschwollen
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