Kurbjuweit, Dirk
davon ausgehen, dass die Frau und die Kinder nicht im
Gehöft waren. Sie wusste da ja gar nicht, wozu die Taliban in der Lage waren.
Sprengfallen mit Babys fabrizieren, das waren doch Monster. Sie beruhigte
sich. Die Geschichte mit dem Baby entlastete sie, dachte Esther. Monster musste
man entschlossen bekämpfen. Alle weiteren Gedanken waren verboten. Schluss
jetzt.
Als sie in
Berlin spätabends aus dem Zug stieg, hörte sie einen fernen Lärm, der nach
Stadion klang, aber soweit sie wusste, gab es hier kein Stadion. Sie folgte
dem Lärm, und am Kanzleramt strömten ihr schon Menschen entgegen. Sie trugen
weiße T-Shirts und hohe Hüte in Schwarz-Rot-Gold. Sie schwenkten Fahnen, sangen
oder zeigten sonstwie ihr Glück. «Vier zu zwei, vier zu zwei, vier zu zweie!!»,
schrie jemand. Auf einer großen Leinwand, die das Brandenburger Tor komplett
verdeckte, sah sie, wie Tore wiederholt und kommentiert wurden. Sie wollte zum
Adlon, dort gab es Taxis, aber es war sinnlos, alles verstopft. Sie ging in die
andere Richtung, die Straße des 17. Juni hinunter, vorbei an Bierbuden,
Würstchenständen, über Plastikbecher und Pappschälchen hinweg. Eine Frau tanzte
um Esther herum, sang «Deutsch-laand, Deutsch-laand», schwenkte einen Schal und
verschwand in der Menge. Esther ging bis zur Siegessäule. Weil sie kein Taxi
fand, lief sie zur Potsdamer Straße. Hupende Autos, Fähnchen, ein Stau. Sie
stieg in einen Bus und später in ein Taxi, das sie nach Sacrow brachte. Ein
paar Tage später flog sie wieder nach Afghanistan.
AFGHANISTAN, SOMMER 2006
Esther
setzte sich auf die kleine Mauer, die den Obsthain abstützte, und legte das
Gewehr neben sich auf die Steine. Es war kühl, sie fröstelte, obwohl sie die
Schutzweste trug. Im Dunkeln friert man mehr als im Hellen, dachte sie. Die
Nacht war schwarz, kein Licht, nicht einmal ein Schimmer. Sie sah das Dorf
nicht mehr. Ihr fiel das blaue Kleid ein. fetzt wäre der Moment, es anzuziehen.
Sie nahm die Hand vom Gewehr und rieb sich die kalten Beine. Das Wasser
gurgelte noch immer über die Steine, über die Straße, wenn auch leiser, der
Regen hatte fast aufgehört. Sobald im Obsthain ein Ast knackte, fuhr sie nicht
mehr herum wie zu Beginn ihrer Wache. Im Obsthain waren kleine Tiere unterwegs,
vielleicht Mäuse, Ratten. Ein Marderhund? Sie sprang von der Mauer, nahm das
Gewehr und ging ein paar Schritte die Straße hinunter, weg von den Autos, die
unterhalb des Obsthains parkten, dicht an der Mauer. Sie blieb stehen und
starrte in die Schwärze hinein. Wenn jemand kam, würde sie ihn zu spät sehen.
Sie musste ihn hören. Sie stand still da und lauschte eine Weile. Frösche unten
am Fluss, manchmal ein Esel, sonst nichts. Sie machte kehrt, ging wieder an den
Wagen vorbei. Die Männer schliefen, die Köpfe lehnten an den Scheiben, ihre
Münder standen offen. Sie könnten genauso gut tot sein, dachte sie. Das würde
es leichter machen, aber diesen Gedanken verbot sie sich sofort. Sie nickte dem
Gebirgsjäger zu, der an dieser Seite des kleinen Konvois Wache hielt. Er lehnte
an der Mauer und rauchte.
Sie blieb
stehen. Die Schlammlawine hatte die Mauer hier auf zehn Meter Breite gebrochen,
die Straße war voller Morast, kleine Bäche sprudelten um Steine und Felsbrocken
herum. Es hatte den ganzen Tag geregnet, schwarze Wolken über dem Hindukusch.
Die Autos hätten die Stelle zwar mühelos passieren können, aber das war zu
gefährlich. Manchmal rissen die Lawinen Minen aus den Bergen mit sich. Dort
oben war nicht geräumt. Die Amerikaner hatten vor wenigen Wochen vier Mann
verloren, weil ein Humvee auf eine Panzermine gefahren war; eine Schlammlawine
hatte sie auf die Straße gespült. Deshalb standen sie jetzt hier. Die
Kampfmittelbeseitiger hätten diesen Ort vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr
erreichen können, sie würden morgen kommen. Ob Jordan unter den Toten war?
Manchmal dachte sie noch an ihn und seinen Krokodilsrücken. Sie sah auf die
Uhr, es war zwei. Ihre Wache dauerte noch eine Stunde.
Seit drei
Wochen war sie wieder in Afghanistan. Man hatte ihr eine andere Stube
zugeteilt. Ein Bett war frei, eines gehörte einer Sanitäterin aus Mittenwald.
Sie war mit Gebirgsjägern hier, die einen Teil der Infanteristen abgelöst
hatten. Esther traf Ina im Lummerland und erzählte ihr, was sie von Maxis
Mutter erfahren hatte. Auf der Leinwand lief Fußball, und sie sah, dass Togo
gegen Frankreich verloren hatte. Sie dachte an Rosemarie.
Die
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