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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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dann der Brief in dieser Mappe? Damit seine Frau ihn findet und sonst niemand? Sie hat ja auch jetzt zielbewußt nach der Mappe gesucht. Nein, doch nicht. Jetzt, nicht mehr mit dem Entziffern der schwer leserlichen Handschrift beschäftigt, fiel ihm etwas anderes auf.
    „Sehen Sie“, sagte Wenzel so alltäglich, wie ihm das möglich war, „sehen Sie die Korrekturen, die Verbesserungen, da ein Abschnitt durchgestrichen und neu geschrieben, mindestens mit drei, nein, mit vier Schreibwerkzeugen, zu unterschiedlichen Zeiten also, und wahrscheinlich… auch schon älter…“ Er hielt den Bogen gegen das Licht. „Das muß in ein chemisches Labor, die können uns sagen, wie alt die Schreibmasse ist. Was ist eigentlich noch in der Mappe?“
    Wenzel spürte, wie die Atmung der Frau sich normalisierte.
    „Entwürfe“, sagte sie nach einiger Zeit und blätterte in den Skizzen und Zeichnungen, „aber fragen Sie mich nicht, wofür. Das sind ganz andere Dinge als früher. Ich meine, wenn es sich zum Beispiel um ein Glasfenster handeln würde, das würde ich erkennen, auch wenn es in der Skizze nur angedeutet wäre. Aber das hier – es sind eben doch fünf Jahre vergangen.“ Sie seufzte.
    „Wissen Sie, was ich denken muß?“ fuhr sie fort, als sie die Treppe hinaufgingen. „Früher mal dachten die Leute, wenn Krieg und Hunger aus der Welt sind, dann würde eitel Freude und Sonnenschein herrschen. Aber immer noch halten Glück und Unglück sich die Waage.“
    Wenzel kannte solche Betrachtungen. Sie wurden meist angestellt, wenn Leute von einem Unglück betroffen waren, und als Entdeckung empfunden. Aber da er viel mit solchen Fällen zu tun hatte, hörte er sie öfter und hatte ihnen auch etwas entgegenzusetzen, was sicherlich genauso oberflächlich, aber dafür tröstlich war – schließlich sind solche Gespräche keine Geschichtskolloquien.
    „Ich glaube, wenn wir von alten Zeiten reden, dann verhält es sich eher so: Die kleinen Probleme unserer Vorfahren, das sind unsere großen. Unsere kleinen kannten sie nicht. Und ihre großen Probleme, eben Hunger und Vernichtung und Gefahr des Weltuntergangs – ich weiß nicht, ob wir Heutigen mit unserer Sensibilität sie überhaupt bestehen würden. Aber vielleicht ist das auch falsch, vielleicht sind wir stärker und belastungsfähiger, als wir denken. Für uns jedenfalls“, sie setzten sich wieder an den Eichentisch, „für uns war es heute ganz schön viel.“
    „Ich danke Ihnen“, sagte die Physikerin und schwieg eine Weile, weil es unnötig war, in Worte zu fassen, was sie beide wußten, nämlich, daß er ihr geholfen hatte, in dieser Situation zu bestehen.
    „Jetzt bin ich schon wieder ganz fröhlich“, sagte sie dann. „Eigenartig, wenn man hier sitzt… Ich habe das früher nie so empfunden. Vielleicht ist es der Blick aus dem Fenster, der mich an sehr glückliche Zeiten erinnert, als die Kinder klein waren und…“
    Sie brach ab und verschwieg, was sonst noch gewesen war in jenen Zeiten, und Wenzel dachte: Nein, der Blick aus dem Fenster ist es nicht, denn er sah nicht aus dem Fenster, aber er spürte das gleiche, von dem die Frau sprach, es mußte etwas im Raum sein, was – nun ja, was glückliche Gedanken weckte, primitiv ausgedrückt, doch eine treffendere Ausdrucksweise fiel ihm nicht ein, zumal das Gefühl zwar spürbar, aber auch wieder verschwommen war.
    „Lassen Sie uns ein paar Minuten ganz still sitzen und ruhen“, bat die Physikerin plötzlich, „es ist etwas hier in der Diele.“
    Wenzel schloß die Augen – genau das hätte er ihr vorgeschlagen, wenn sie nicht selbst daraufgekommen wäre. Wie war das vorhin gewesen, hatten sie da nicht ähnlich gefühlt, nur nicht so intensiv? Und hatte die Physikerin nicht gefragt, ob er etwas höre?
    Nein, er hörte auch jetzt nichts. Und das Gefühl einer Fröhlichkeit, die ihn von irgendwoher anwehte, wurde auch schwächer.
    „Bitte bleiben Sie sitzen“, sagte Sibylle Mohr und stand auf. Zögernd, nicht entschlossen und energisch wie sonst, sondern eher behutsam ging sie im Raum auf und ab, mal nach der einen, mal nach der andern Seite, und blieb schließlich vor dem gläsernen Raumteiler stehen, den Wenzel schon vorhin bewundert hatte.
    „Kommen Sie, schnell!“ flüsterte sie, lachte und sprach dann laut: „Nein, Unsinn, kommen Sie ruhig langsam!“
    Wenzel stand auf und trat an den Raumteiler heran, von der anderen Seite. Aus einigen Metern Abstand hatte das Glas grün ausgesehen; jetzt

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