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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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Physikerin das jetzt auch nicht wissen konnte; doch wenn sie schon nach Antworten suchen wollte, dann sollte sie dazu mit möglichst genauen Fragen ausgestattet sein.
    Sibylle Mohr hatte auch schon darüber nachgedacht. „Wenn es eine neue Schöpfung in Kunst oder Handwerk gewesen wäre, dann hätte er zuerst seine entsprechenden Kollegen eingeladen. Es muß mit mir zu tun haben, mit uns, mit unserer Trennung. – Da sind wir.“
    Sie traten in die Diele, die den größten Teil des Erdgeschosses einnahm. Diesmal sah Wenzel sie nicht als Fundort einer Leiche, sondern als Lebensbereich, als Wohnung: eine kleine Halle mit Kamin und Stützpfeilern, wohnlich eingerichtet; die künstlerischen und handwerklichen Produkte des Besitzers und seiner Nachbarn schmückten Wände und Schränke. Ein Raumteiler aus grünen Glaselementen unterschiedlicher Form und Größe fiel ihm auf, bestimmt ein Werk des Toten; kleine Tonfiguren, die mochten vom Mann der Ratgeberin stammen; ein Bild, das eine hiesige Landschaft zeigte, aber so, wie sie seit höchstens fünfzig Jahren aussah, schon renaturalisiert, das Signum deutete auf die Ratgeberin hin.
    Die Physikerin hatte vor dem Blutfleck gestockt, war vorsichtig darum herumgegangen und stand nun an einem schweren Eichentisch mit hochlehnigen, schnitzwerkverzierten Stühlen; sie bot Wenzel mit einer Handbewegung Platz an und setzte sich auch selbst. Ihre Hand streichelte die Tischkante. „Dieses Ensemble hab ich immer besonders gern gehabt“, sagte sie. „Es stammt noch von meinem Urgroßvater.“
    „Aus der Anfangszeit der Stabilisierung also.“
    „Ja, er war immer sehr stolz darauf, daß er zu den ersten gehört hatte, die sich Möbel wieder aus Holz hergestellt und sie ihren Kindern und Kindeskindern vererbt haben, statt sich dreimal im Leben neu einzurichten mit diesen schnell verschleißenden Industriemöbeln, die damals üblich waren. Das war für uns Kinder praktischer Unterricht in Ökonomie der Stabilisierung.“
    „Sie haben die Möbel hiergelassen, als sie sich trennten?“
    „Ja, was sollte ich damit auf Gagarin? Oder in Sternenstadt? Hier können sie bleiben, bis einmal die Enkel das eine oder andere Stück erhalten.“
    Das war eigentlich klar, das Gespräch plätscherte jetzt dahin, man sagte sich Selbstverständlichkeiten, aber auf freundliche Weise – schließlich hätte er sich nicht für die Modalitäten der Trennung interessieren müssen, und sie hätte ihm nicht die Frage nach den Möbeln zu beantworten brauchen: Sie kamen einander näher, stellten sich innerlich auf Kooperation ein, und das war. gut so. Denn Wenzel wollte der Physikerin die Führung überlassen. Sie wußte zwar genausowenig wie er, was sie suchten, aber sie würde es jedenfalls eher finden als er, ihr würde eher auffallen, was neu oder ungewöhnlich oder auch nur verändert war.
    Übrigens hatte die Bemerkung der Physikerin über die Möbel mehr Erinnerungen in Wenzel wachgerufen, als sie ahnen konnte. Er hatte als junger Mann Soziologie studiert, und zwar die des Übergangs, der Harmonisierung und der Stabilisierung, und er wußte genauer als die meisten anderen, wie absurd die normalen Dinge und Einrichtungen des heutigen Lebens den Leuten noch vor hundert, na gut, vor hundertfünfzig Jahren erschienen wären, damals während der Harmonisierung, als alle Völker und Staaten auf den Stand der Fortgeschrittensten gebracht wurden – oder gar vorher, vor dem Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt, der die Übergangszeit beendete und die Zeit der Harmonisierung einleitete. Es waren fröhliche Erinnerungen, die in ihm aufstiegen, und überhaupt fühlte er sich augenblicklich so erfüllt von angenehmer Freundlichkeit, daß ihm das direkt unpassend vorkam in diesem Raum und an diesem Tage.
    „Hören Sie nichts?“ fragte da die Physikerin. Wenzel verneinte, etwas verwundert.
    „Mir war nur so“, sagte die Physikerin. „Gehen wir?“
    In der Küche, die gleich von der Diele abging, lagen die Gegenstände auf dem Tisch, die der Tote in den Taschen seines Arbeitsanzugs gehabt hatte: ein Schnupftuch, unbenutzt, und ein kleines Schlüsselbund. Daneben standen mehrere Behälter mit Werkzeugen und Instrumenten.

    „Die Schlüssel?“ fragte Wenzel. Schlüssel waren selten geworden in den letzten hundert Jahren.
    „Vom Stall“, sagte Sibylle Mohr, „das Labor muß verschlossen sein; wenn zufällig Wanderer darin Unterschlupf suchen und keiner ist da, dann können sie sich allerhand Schaden

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