Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
wenn er sich modern und weltoffen geben wollte, oder wie ein Erwachsener, der sich der Jugendsprache bediente. Das Wort passte einfach nicht zu ihr. Genauso wenig wie eine klare politische Meinung und offener Protest. Was aber zu Mamma Carlotta passte, war die Freude am Neuen, die Freude daran, ihre Enkelkinder zu unterstützen und ein gemeinsames Erlebnis zu genießen. Und in diesem Fall auch die Freude am Widerstand, an Massenkundgebung und Krawall. Ja, Erik war sicher, dass seine Schwiegermutter bei der geplanten Demo mitten drin zu finden sein würde.
Felix war ihnen aufgeregt entgegengesprungen. »Nonna! Wo bist du gewesen? Du wolltest uns bei den Plakaten helfen!«
Während sie die Jacke auszog, in die Küche eilte und den Salbei wusch, hatte Mamma Carlotta eine sehr verworrene Schilderung davon abgegeben, was sie aufgehalten hatte. Das lange Gespräch, das ihr in der Gemüseabteilung von Feinkost Meyer angeblich aufgenötigt worden war und den Einkauf um mindestens eine halbe Stunde verzögert hatte, und der Schreck, als sie feststellen musste, dass ihr Fahrrad einen platten Hinterreifen hatte. Wenn man ihr glauben wollte, hatte sie viel Zeit damit verbracht, auf dem Parkplatz jemanden zu finden, der im Besitz von Reparaturzeug und außerdem geneigt war, auf die Schnelle ihren Hinterreifen zu flicken.
»Warum hast du das Rad nicht nach Hause geschoben?«, hatte Carolin mit ihrer leisen Stimme eingeworfen. »Von Feinkost Meyer in den Süder Wung – das ist doch nicht weit.«
Diesen Einwand hatte Eriks Schwiegermutter überhört und stattdessen ihre Freude geschildert, als die Reporterin der Mattino ihre Hilfe angeboten hatte.
»Sie will sogar über ›Verraten und verkauft‹, über die Unterschriftenaktion und später über die Demo berichten.«
Mamma Carlotta hatte offenbar den allerbesten Eindruck von dieser jungen Frau gewonnen und war fest davon überzeugt, dass sie das Fahrrad zurückbringen würde, sobald ihr aufgegangen war, dass es sich noch in ihrem Kofferraum befand. Eriks Sorge, dass Lucias Fahrrad verloren sein könnte, wollte sie nicht an sich heranlassen.
Tatsächlich hatten sie gerade die Antipasti verzehrt, die Mamma Carlotta immer am ersten Tag ihres Aufenthaltes auf Sylt in so großen Mengen einlegte, dass sie bis zu ihrer Abreise reichten, da quietschten Bremsen vor dem Haus. Eriks Schwiegermutter war schon zur Tür gelaufen, bevor er sich selbst vom Stuhl erhoben hatte, war mit großem Hallo auf das Auto zugestürzt, das vor der Tür stand, und hatte die Fahrerin mit einem Wortschwall überschüttet, den diese erstaunlich gelassen ertrug. Als Erik vor die Tür trat, hatte er sogar den Eindruck, dass Mamma Carlotta der jungen Frau etwas zuflüsterte. Als hätten die beiden bereits Geheimnisse miteinander.
Wiebke Reimers hatte ihn freundlich begrüßt und lange angesehen, als wollte sie ihm Gelegenheit geben, ihre Sommersprossen zu zählen. Er hatte jedoch diese Augenblicke zu nichts als der Feststellung nutzen können, dass ihre bernsteinfarbenen Augen ganz wunderbar zu ihren roten Locken passten. Als sie schon den Kofferraum ihres Wagens öffnete, war er endlich fähig gewesen, zu ihr zu treten und darauf zu bestehen, das Fahrrad seiner verstorbenen Frau höchstpersönlich aus dem Wagen zu heben.
E rik warf sich wieder auf den Rücken. Warum hatte er gleich während der ersten Sätze erwähnt, dass er Witwer war? Diese Frage wollte er sich auf keinen Fall beantworten, deshalb beschloss er aufzustehen. Er trat ans Fenster und schaute hinaus. Ein grauer Morgen erwachte über den Bäumen. Der Wind rüttelte an ihren Zweigen, im Nachbargarten fiel etwas um und schlug an die Hauswand. Immer wieder, mal sanft und leise scheppernd, mal laut und polternd. Ein stürmischer Oktobertag schien die Insel zu erwarten. Aber wenigstens regnete es nicht.
Erik machte sich auf den Weg ins Badezimmer und lauschte kurz ins Haus hinein. Die Kinder hatten Herbstferien, in ihren Zimmern war alles ruhig. Aber aus der Küche drangen die Geräusche, die es leichter machten, den Tag zu beginnen: Geschirrgeklapper, das Zischen der Espressomaschine und Mamma Carlottas fröhliches Summen, das sie nur unterbrach, wenn sie einen Panino fragte, warum er sich nicht schneiden lassen wollte, oder mit der selbst gekochten Feigenmarmelade schimpfte, die nicht so süß war, wie sie eigentlich sein sollte. Erik merkte erst, dass er lächelte, als er im Badezimmer in den Spiegel sah. Widerstrebend gab er zu, dass er es
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