Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
genoss, wenn seine Schwiegermutter auf Sylt zu Besuch war, wenn sie ihn mit ihrer Fürsorge verwöhnte, wie Lucia es früher getan hatte, und ihm für ein paar Wochen die Sorge nahm, dass er den Kindern, die ihre Mutter vermissten, nicht gerecht werden konnte.
Ein schnarrendes Geräusch, das aus dem Schlafzimmer kam, durchstach seine Gedanken. Das Handy, das er vor dem Zubettgehen auf den Nachttisch gelegt hatte! Auf dem Display stand eine Wenningstedter Nummer, die ihm unbekannt war. »Wolf?«
Am anderen Ende war Jacqueline Hansen, die Bedienung aus der Sportlerklause. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt! Am liebsten hätte ich schon in der Nacht angerufen.«
»Geht’s um Herrn Thöneßen?«
Jacqueline zögerte. »Ich hab noch immer nichts von ihm gehört. Und seit ich mit Ihnen darüber geredet habe, kommt mir die Sache komisch vor.«
»Und?«
»Als ich gestern Abend die Bude abgeschlossen habe, ist mir was eingefallen. Am Tag vor seinem Verschwinden habe ich für ihn seine Medikamente aus der Apotheke geholt.«
Erik unterbrach sie. »Er ist krank?«
»Diabetes! Wussten Sie das nicht?« Ihre Stimme klang so erstaunt, dass es Erik ausnahmsweise ein wenig peinlich war, nur selten über das, wovon alle Sylter redeten, Bescheid zu wissen.
»Er braucht seine Medikamente«, fuhr Jacqueline fort. »Sie sind lebenswichtig für ihn. Und ich weiß, dass sein Vorrat quasi erschöpft war, als er mich zur Apotheke schickte.«
Erik wurde nervös. »Nun sagen Sie schon …«
»Nun ja, ich bin heute Nacht in seine Wohnung gegangen.«
»Von der haben Sie auch einen Schlüssel?«
Jacqueline antwortete nicht auf seine Frage. »Die Tüte mit den Medikamenten lag noch auf dem Tischchen neben der Tür. Da, wo ich sie hingelegt habe. Er ist also seit Tagen ohne Insulin!«
M amma Carlotta genoss den ersten Espresso des Tages in Gedanken an den vergangenen Abend. Die Aufgabe, die man ihr zugeteilt hatte, war genau nach ihrem Geschmack gewesen. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass Bürgerprotest derart unterhaltsam sein konnte! An fremden Türen klingeln, mit der einen Hand eine wichtig aussehende Bescheinigung vorweisen, mit der anderen die Unterschriftenliste, in die sich möglichst viele Bürger und Kurgäste eintragen sollten, um ihren Protest gegen Matteuer-Immobilien auszudrücken. Der Erfolg war nicht vor allen Türen gleich gewesen, aber selbst wenn sie abgewiesen worden war, hatte sie doch Einblicke in das Leben anderer gewonnen, von denen es zurück in der Heimat viel zu erzählen geben würde.
Mamma Carlotta griff nach der Unterschriftenliste, die neben ihrer Tasse lag, und betrachtete sie stirnrunzelnd. Besonders viele Namen standen dort nicht. Felix und Carolin hatten sie sogar vorwurfsvoll angesehen, als sie ihnen das magere Ergebnis vorgelegt hatte.
»Nicht einmal zwanzig? Was hast du den ganzen Abend gemacht, Nonna?«
»Allora … manche Leute mussten sehr lange überzeugt werden.«
Dass aus dieser Überzeugungsarbeit häufig auch eine nette Plauderei geworden war, während der sie von ihren sieben Kindern, den Schwiegerkindern und Enkeln erzählt und so einiges zu hören bekommen hatte von gescheiterten Ehen, schlecht geratenen Kindern, undankbaren Enkeln, anstrengenden Schwiegermüttern und despotischen Vätern, hatte sie für sich behalten. Auch, dass sie aus gutem Grund darum gebeten hatte, in den Häusern am Hochkamp Unterschriften sammeln zu dürfen, hatte sie nicht erwähnt. Denn dort gab es eine schmuddelige Imbissstube, dessen cholerischen Wirt sie ihren Sylter Freund nannte, ebenso wie seinen einzigen Stammgast, den Strandwärter Fietje Tiensch. Der Besitzer von Käptens Kajüte hatte immer einen Wein aus Montepulciano für Mamma Carlotta unter der Theke stehen, und da sie während dieses Aufenthaltes auf Sylt noch nicht dazu gekommen war, die Imbissstube zu besuchen, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um Tove Griess und Fietje Tiensch zu begrüßen. Dass ein solcher Besuch Zeit kostete, die der Unterschriftenaktion am Ende fehlte, hatte ihr Gewissen zunächst belastet, aber als sie sich gesagt hatte, dass sie auch in Käptens Kajüte für die Ziele der Bürgerinitiative werben würde, war es ihr besser gegangen.
Wie zu erwarten, hatte der Wirt gelangweilt hinter der Theke gestanden und auf Kundschaft gewartet, die im Oktober nur spärlich bei ihm erschien. Die Bratwürste lagen schon so lange auf dem Grill, dass sie nur noch unter viel Ketchup versteckt als Currywürste zu verkaufen sein
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