Kurschattenerbe
soeben hinausgeschlüpft war.
*
Jenny Sommer war nach ihrem beschwerlichen Abstieg beim Steinernen Steg angelangt. Sie radelte über die Brücke, unter der das Rauschen der Passer anschwoll. Der Himmel verdunkelte sich zusehends.
Kaum war Jenny am anderen Ufer angelangt, durchzuckte ein Blitz die dichte Wolkenwand, die sich bereits gebildet hatte. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte. Das Gewitter, das Jenny zu Beginn ihrer Fahrt weit weg gewähnt hatte, kam in Windeseile näher. Sie spürte erste Regentropfen auf ihre Nase klatschten.
Jenny bremste und stieg vom Rad. Mit einem Mal bemerkte sie, wie menschenleer es um sie war. Hatten sich bei ihrem gestrigen Spaziergang mit Lenz hier Fußgänger und Radfahrer getummelt, wirkte die Promenade jetzt wie ausgestorben.
Platsch. Wieder spürte Jenny einen Tropfen, diesmal mitten auf der Stirn. Mit der Hand wischte sie ihn weg, sogleich folgte der nächste. Sie musste schleunigst einen Unterstand finden, sonst wäre sie bald bis auf die Haut durchnässt.
Fragte sich bloß, wo. Jenny erinnerte sich an die Wandelhallen, die auf der Sommerpromenade ein Stück weiter flussabwärts lagen. Ob sie es bis dorthin schaffen würde?
Wieder zuckte ein Blitz, lautes Donnerkrachen folgte. Nein, entschied Jenny. So viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Es war viel zu gefährlich, bei einem solchen Gewitter mit dem Rad am Wasser entlangzufahren. An der nahezu baumlosen Winterpromenade wäre sie ein geradezu prädestiniertes Ziel, ein wandelnder Blitzableiter sozusagen.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Waren sie nicht gestern an einem Kaffeehaus vorbeigekommen? Jenny rief sich den Weg ins Gedächtnis: Sie waren die Winterpromenade Passer aufwärts gegangen und hatten den Steinernen Steg passiert. Anschließend hatten sie einen Torbogen passiert, gleich danach die Terrasse eines Cafés. Genau dort wollte Jenny hin. Das Café lag nur ein kurzes Stück entfernt, das war zu schaffen.
Entschlossen radelte sie weiter. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, sie ignorierte es. Gleich würde sie da sein. Die Fassade des Jugenstilbaus tauchte auf. Jenny war sich sicher, im Inneren des Cafés einen Platz zu finden, an dem sie ausharren konnte, bis sich das Gewitter wieder verzog.
*
Entnervt legte Lenz Hofer auf. Er hatte innerhalb einer Stunde dreimal versucht, Jenny zu erreichen. Ohne eine Reaktion von ihr. Im Krankenhaus war sie nicht aufgetaucht.
Inzwischen machte er sich Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen war. Sonst wäre sie sicherlich längst ins Spital gekommen oder hätte zumindest angerufen, um sich nach Arthurs Befinden zu erkundigen.
»Sind Sie sicher, dass Frau Sommer das Kommissariat verlassen hat?«, fragte er Comploi, der gerade an Lenz vorbeiging.
Der Inspektor nickte. »Mein Kollege hat mir versichert, dass sie kurz nach 14 Uhr gegangen ist. Das ist« – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – »eine gute Stunde her.«
»Gibt es etwas Neues von Professor Kammelbach?«, erkundigte sich Lenz.
Comploi schüttelte den Kopf. »Sein Zustand ist unverändert. Es geht ihm nicht schlechter, aber auch nicht besser«, seufzte der Beamte.
Lenz überlegte. Es konnte Stunden dauern, bis Arthur wieder zu sich kam. Wenn das geschah und der Arzt ihn für vernehmungsfähig erklärte, würden ohnehin Comploi und seine Kollegen mit dem Professor reden wollen. Für Lenz gab es hier nichts zu tun, und er wurde des Wartens müde. Es musste ihm gelingen, Jenny zu finden. Wahrscheinlich hatte sie ihr Handy wieder irgendwo liegen gelassen und befand sich im Hotel oder im Kurhaus.
Rasch fasste er einen Entschluss. »Inspektor, ich muss weg. Falls Frau Sommer inzwischen auftaucht, sorgen sie dafür …« Lenz korrigierte sich. »Bitten Sie sie, dass sie hier auf mich wartet.«
Comploi nickte. »Ich werde mein Bestes tun.«
Der Beamte hatte kaum zu Ende gesprochen, da eilte Lenz den Gang entlang. Im Freien angekommen, musste er feststellen, dass seine Wettervorhersage, die er Jenny gegenüber am Vormittag geäußert hatte, vollkommen richtig war: Es goss in Strömen.
Auch egal, dachte er, und schwang sich auf sein Fahrrad.
*
An einer der Scheiben des Cafés am Eingang zur Gilfpromenade stand Jenny und drückte sich die Nase platt. Die Tür war verschlossen, drinnen war es dunkel. Das Lokal hatte für heute dicht gemacht, und es gab keine Möglichkeit, ins trockene Innere zu gelangen. Auch sonst entdeckte sie weit und breit nichts, wo sie hätte Unterschlupf finden können.
Jenny sah
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