Kurschattenerbe
ihre Bluse zu und schlüpfte in ihre Leinenslipper. Die Dusche konnte warten, Arthur hatte Vorrang.
Jenny wollte das Zimmer gerade verlassen, da fiel ihr Blick auf den Stadtplan, den sie auf das Nachtkästchen gelegt hatte.
Richtig, sie wusste ja gar nicht, wo das Krankenhaus lag. Bevor sie sich auf den Taxifahrer verließ, dessen Dienste sie in Anspruch zu nehmen gedachte, sollte sie sich schlaumachen, wo sie hinwollte.
Rasch entfaltete sie die Karte und breitete sie auf dem Bett aus. Das Krankenhaus lag zwischen der Goethe- und der Rossini-Straße. Die Gegend kannte sie. Da war sie gestern mit Beppo im Stau gestanden. Sie überprüfte die Route, die das Taxi zu nehmen hatte: St.-Georgen-Straße, Cavour-Straße, Postbrücke. Jenny sah auf ihr Handy: Kurz nach 15 Uhr. Es war zwar keine Rushhour. Dennoch, die Fahrt würde ewig dauern. Schon beim Herweg vom Kornplatz war das Taxi ab der Postbrücke nur schrittweise vorangekommen. Jetzt würde man sich in die entgegengesetzte Richtung von Ampel zu Ampel quälen müssen.
Ob sie zu Fuß besser dran war? Nein, entschied sie, das brachte nichts. Sie würde das Zentrum durchqueren und kilometerlang die westliche Stadtausfahrt Richtung Vinschgau entlangmarschieren müssen, bevor sie ans Ziel käme. Da konnte sie ebenso gut bequem mit dem Taxi …
Mit einem Mal kam ihr eine Idee: Sie würde mit dem Fahrrad ins Krankenhaus fahren. Von der St.-Georgen-Straße führte ein Fuß- und Radweg direkt hinunter zum Steinernen Steg. Wenn sie den überquerte, konnte sie die Passer entlang bis zum Rennweg und von dort zum Krankenhaus radeln.
Ja, mit dem Fahrrad wäre sie eindeutig am schnellsten. Mit den Shorts und den Slippers, die sie trug, war sie perfekt für eine solche Tour gekleidet. Handtasche benötigte sie keine. Ein paar Geldscheine und das Handy – beides schob sie in ihre Hosentasche – waren völlig ausreichend, für das, was sie vorhatte. Bedauerlich war bloß, dass sie diesmal keinen Fahrradhelm im Gepäck hatte. Aber ihr Koffer war zum Bersten voll gewesen. Daher hatte sie auf das Utensil, das sie normalerweise immer auf Reisen mitführte, verzichtet.
Sie musste sich nur in der Hotelgarage ein Fahrrad schnappen und es konnte losgehen.
Jenny stand am Geländer, das die St.-Georgen-Straße von dem Ufer der Passer trennte und überlegte, welchen Weg sie nehmen sollte. Die Einfahrt zum Serpentinenweg, der zur Passer führte, hatte sie verpasst. Ihr blieb nur die verkehrsreiche Straße. Oder sie trug ihr Rad die Stufen hinunter und fuhr ein kleines Stück flussaufwärts zum Steinernen Steg, wo sie den Fluss überqueren und die Promenade entlang fahren konnte.
Jenny sah zum Himmel und bemerkte, dass er längst nicht mehr so blau und strahlend war wie zuvor. Dichte Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ob sie lieber kehrtmachen sollte? Nein, entschied sie. Ein Gewitter würde mit Sicherheit eine Weile auf sich warten lassen. Entschlossen hob sie ihr Rad mit beiden Händen und begann, die Stufen hinunterzusteigen. Ihr Handy läutete erneut. Sie hörte es nicht, so sehr nahm die Anstrengung sie in Anspruch.
ACHTZEHN
Tobias Winkler klopfte wild an Violas Zimmertür. »Mach auf, bitte, mach auf. Wir müssen reden.« Immer wieder sagte er sich im Geiste die Worte vor. Ein Kriminalbeamter war im Kurhaus aufgetaucht und hatte ihn vernommen. Alles hatte er wissen wollen: Über die Vielle, über Violas Rolle im Ensemble, schließlich sogar über seine Beziehung zu Viola.
Er war nicht mehr in der Lage gewesen, etwas vorzutäuschen. Er hatte dem Mann alles erzählt, was er wusste, ihm geradezu sein Herz ausgeschüttet. Unumwunden hatte er zugegeben, dass Viola im Ensemble untragbar geworden war. Ihre schlechten musikalischen Leistungen und ihr unkollegiales Verhalten machten einen Verbleib nicht länger möglich.
»Ich will sie trotzdem nicht im Stich lassen«, hatte er zu dem Polizisten gesagt und sich dabei mit der Hand die Haartolle zerfurcht, die ihm in die Stirn gefallen war. Der Beamte hatte ihn prüfend angeblickt. Tobias war fortgefahren: »Ich liebe Viola und ich werde einen Ausweg finden.«
»Es besteht der Verdacht, dass Frau Peterle …«
Peterle, wieso Peterle? Ach so, das war ja Violas richtiger Nachname. Den hatte die Polizei also herausgefunden. »… dass Frau Peterle selbst die Geige hat verschwinden lassen. Möglicherweise hat sie damit auch Professor Kammelbach niedergeschlagen – oder war zumindest daran beteiligt. Wissen Sie, wo wir sie
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