Kurschattenerbe
anderer der Schuldige war – in Meran oder der nächsten Umgebung lief nach wie vor ein Mörder frei herum. Jenny sollte darüber Bescheid wissen.
Lenz erhob sich von seinem Sessel. Der Professor war nicht wieder erwacht und Jenny hatte sich bislang nicht gemeldet. Lenz nahm wieder das Mobiltelefon aus der Gesäßtasche seiner Jeans und drückte auf Wahlwiederholung.
*
Der Entführer von Arthur Kammelbach und der Mörder von Peter Mitterer bereitete sich auf seinen letzten großen Coup vor. Seit Tagen hatte er sich auf diese Möglichkeit vorbereitet.
Er hatte gehofft, dass es nicht notwendig sein würde, eine solche Maßnahme zu ergreifen Doch die Polizei hatte Arthur Kammelbach gefunden, den einzigen Zeugen. Es war zwar ungewiss, ob sein Opfer das Bewusstsein jemals wieder erlangen würde. Doch er konnte nicht darauf vertrauen, dass Arthur Kammelbach starb, ohne vorher auszusagen.
Der Professor war der Einzige, der die ganze Wahrheit kannte. Ob er ihn besser gleich getötet hätte?
Nein, entschied der Mörder. Das hätte nur vorzeitig Zusammenhänge aufgezeigt, die die Polizei so nie herausgefunden hätte. Vermutlich könnte er sich sogar weiterhin in Sicherheit wiegen, gäbe es da nicht eine bestimmte Person. Er hatte vorgehabt, die umtriebige PR-Beraterin aus dem Weg zu räumen. Doch dazu war nun keine Gelegenheit mehr. Er musste seine Zeit gut einteilen und seine Kräfte für das schonen, was vor ihm lag.
Ein weiteres Mal überprüfte er seinen Rucksack. Vor Tagen hatte er ihn gepackt, um für den Notfall gerüstet zu sein. Es war alles da: Seil, Steigeisen, Sportriegel, die ihn rasch mit Energie und Proteinen versorgen würden, warme Kleidung, ein Schlafsack für kühle Nächte – winzig zusammengefaltet, sodass das Ding kaum Platz wegnahm. Platz, den er benötigen würde.
Denn es fehlte das Bild. Das Bild, mit dem alles seinen Anfang genommen hatte …
Ob er mehr Nahrung mitnehmen sollte? Der Mörder überprüfte den Inhalt des Kühlschranks. Nüsse? Zu salzig, davon bekam er nur Durst. Schokolade? Sie war ein bewährter Energiespender, würde die derzeitigen Temperaturen allerdings nicht lange überdauern. Wasser benötigte er nicht, dort, wo er hinwollte, gab es genug Quellen. Eine Cola, das war eine Idee. Sie würde ihn auf dem ersten langen Wegstück wachhalten. Am besten er nahm gleich einen Schluck.
Gierig trank er, verschloss die Flasche und verstaute sie in seinem Rucksack. Er wollte sich mit dem Rad auf den Weg machen. Damit konnte er Meran rasch und unauffällig verlassen und in die Berge gelangen. Dort, wo das Gelände zu steil und zu unwegsam zu werden begann, würde er das Gefährt einfach irgendwo liegen lassen und zu Fuß weitermarschieren. So lange, bis er über der Grenze war. Dort kannte er jemanden. Der würde ihm helfen, das Bild zu verkaufen und einen falschen Pass zu besorgen – und ab nach Südamerika. Dort konnte er sich eine neue Existenz aufbauen.
Die Person, die gerade ihre Flucht vorbereitete, sah sich prüfend um. Sie würde viel zurücklassen. Wohlstand, Ansehen, Menschen, die ihr vertrauten und die sie liebten. Darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Es war nur sie, die zählte – so, wie es in Wirklichkeit immer gewesen war.
Ein letztes Mal sah sie in den Spiegel, bevor sie nach ihrer Ausrüstung griff. Ein Radfahrer mit Rucksack fiel nicht auf. Zugegeben, der Rucksack war etwas überdimensioniert. Doch das sollte kein Problem sein. Wer wusste schon, zu welch herausfordernder Tour er unterwegs war?
Der Mörder war im Begriff, seinen Rucksack zu schultern. Plötzlich sah er, wie die Türklinke sich bewegte. Er hatte vergessen abzuschließen. Jemand betrat den Raum.
*
An den Stufen, die von der St.-Georgen-Straße hinunter zur Sommerpromenade und zum Steinernen Steg führten, stand Jenny und erwog die Möglichkeiten, die ihr für den weiteren Weg offenstanden.
Sie hatte auf dem Weg ins Badezimmer ihr Handy läuten gehört, jedoch zu spät abgehoben. Der Anrufer hatte bereits aufgelegt. Die Nachricht auf der Mobilbox war klar und deutlich: Sie sollte umgehend zu Lenz ins Krankenhaus kommen.
Was erlaubte sich der Kerl eigentlich? Zuerst ließ er sie mehrmals stehen. Und jetzt glaubte er, sie herumkommandieren zu können. Mit ihr konnte er das nicht machen, auf gar keinen Fall!
Sie wollte wieder ins Badzimmer zurückkehren und sich die wohlverdiente Dusche gönnen, besann sich jedoch. Was, wenn Lenz’ Nachricht Arthur betraf? Rasch knöpfte sie daher
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