Kurz bevor dem Morgen graut
mächtig. Sie würden dich töten.“
Dann stieg sie wortlos splitternackt in ihren Wagen und fuhr los. Ich sah ihr noch lange nach. Das „Mädchen“, das meine große Liebe gewesen war und meine erste richtige Liebe, fuhr als alte Frau davon.
Was dann passierte, erfuhr ich erst, als die Polizei auftauchte. Ich habe erst von Ihnen gehört, dass Margarethe Schuster in den Tod gefahren ist. Sie haben richtig vermutet, dass mich diese Nachricht mehr erschüttert hat, als es bei einer Frau der Fall sein sollte, die man nach eigener Aussage nie im Leben gesehen hat. Sie haben korrekt erkannt, dass ich nicht ahnungslos über Kiandras Verschwinden war. Die Aussage, dass sie sich vermutlich mitten in der Nacht ohne Kleidung aus der Hütte geschlichen hat, als ich schlief, war auch nicht wirklich glaubwürdig. Aber ich musste improvisieren. Auch war mir klar, warum Margarethe Schusters Wagen vor der Hütte gestanden und wieso sie nackt in ihr Auto gestiegen war.
Es bleiben offene Fragen, die auch ich Ihnen nicht beantworten kann. Wieso Sie nie Spuren von Margarethe Schuster im Badezimmer der Hütte gefunden haben? Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem sie keine Spuren von mir in ihrem Haus entdeckt haben. Die sind sehr gründlich.
Warum sie sterben musste, weiß ich nicht. Vielleicht war es ein Unfall, weil sie 85 war und nackt und verheult Auto gefahren ist. Vielleicht war es Absicht, weil sie keinen Sinn mehr im Leben gesehen hat. Vielleicht haben die sie aber auch getötet, weil sie sich einen Monat kostenlose Jugend erschlichen hat.
Ich könnte mir Letzteres gut vorstellen. Diese Leute, wer sie auch sind und woher sie auch kommen, verstehen keinen Spaß. Wahrscheinlich sind sie jetzt hinter mir her, weil ich Ihnen Bescheid gebe. Aber das ist mir egal. Ich muss sowieso bald sterben. Vielleicht bleibt mir ja ein qualvoller Krebstod erspart ...
Mit Sicherheit halten Sie mich jetzt für verrückt. Nun, sei es drum. Ich werde Ihnen keine Rückfragen beantworten können, also antworten Sie nicht auf diese E-Mail. Wenn ich auf den Flur blicke, sehe ich, dass meine Badezimmertür offen steht. Ich bin mir sicher, dass ich sie vorhin zugemacht habe. Auch ist mir, als ob ein kalter Hauch von dort her zieht.
Ich sende nun. Passen Sie auf sich auf.
Hochachtungsvoll
Leopold E. Kessler
DIESELBEN AUGEN
Tom Bogenhart war nach Vegas gekommen, um zu spielen. Er war für seinen Geschmack schon viel zu lange nicht mehr hier gewesen. Aber das Leben hatte ihn verwöhnt die letzten Jahre und so konnte er es sich leisten, wieder einmal mit hohen Einsätzen zu spielen.
„Rien ne va plus“, ließ der Croupier verlauten und das Roulette drehte sich.
Tom schloss die Augen, öffnete sie aber gleich wieder. Er ließ ein hämisches Lachen vernehmen und rechnete sich aus, wie viel er gewonnen hatte.
Gut gelaunt wechselte er seine Chips ein und ging an die Bar. Er hatte sich gerade einen trockenen Martini bestellt, als sich ein junges Mädchen neben ihn setzte. Sie mochte so um die zwanzig sein und war einladend hübsch. Ihr lockiges blondes Haar fiel ihr anmutig über die dezent gebräunten Schultern, die nicht von ihrem blutroten Cocktailkleid bedeckt wurden.
Sie lächelte Tom an. Tom erwiderte das Lächeln.
„Sind Sie das erste Mal in Vegas?“, fragte sie ihn auf Englisch.
„Nein“, meinte Tom und grinste. „Es gab mal eine Zeit, da war dieses Kasino fast mein Wohnzimmer. Aber das ist lange her. Da waren Sie noch nicht mal auf der Welt.“
Sein Englisch war fließend, dank der vielen Auslandsreisen, die er für seine Bank unternommen hatte.
„Ach, waren Sie mit zehn schon hier?“, versuchte die Blondine ein für Toms Geschmack etwas billiges Kompliment. Er war Mitte fünfzig und sah auch so aus. Tom versuchte einzuschätzen, mit was für einer Art Mädchen er es hier zu tun hatte. War sie einfach nur eine Glücksritterin, die sich an den erstbesten Gewinner ranhängte oder gar eine Prostituierte? In letzterem Fall musste er vorsichtig sein hier in Vegas. Im schlimmsten Fall konnte sie eine verdeckte Ermittlerin sein, die ihn festnahm, wenn er ihr Geld bot. Tom beschloss, seine Möglichkeiten auszuloten.
„Was macht denn ein so junges Mädchen wie Sie in dies er Stadt?“, fragte er, ohne auf ihre vorherige Bemerkung einzugehen.
„Ihr Glück“, sagte sie und zwinkerte. Als sie das sagte, spürte Tom eine kurze Vertrautheit, die ihn an irgendetwas erinnerte. Was war es gewesen? Sie hatte einen leichten
Weitere Kostenlose Bücher