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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kimmelmann
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nein“, flüsterte Tom, als er auf das Nachtkästchen blickte, auf dem Maura zu Werke gewesen war. Es waren noch Spuren von dem Kokain auf der Glasplatte zu sehen, das sie sich in die Nase gezogen haben musste, während er im Bad gewesen war.
    „Hey! Maura!“, schrie er sie an und packte sie an den Schultern.
    Maura sah in nur mit einem glasigen, starren Blick an.
    „Maura! Wach auf!“, brüllte er und schüttelte sie.
    Maura antwortete nicht. Diese Dosis war ihre Letzte gewesen.
    Fassungslos ließ Tom Maura auf das Bett zurückfallen. Der leichte Rotstich in ihren Augen wirkte nur noch seltsam blassrosa. Seine Gedanken kreisten hektisch hin und her. Er war in den Vereinigten Staaten, wo das Gesetz nicht gerade zimperlich war. Er befand sich mit einer Nutte in einem Hotelzimmer, die Nutte war tot und überall lag Koks. Was sollte er tun?
    Weil ihm nichts Besseres einfiel, schwankte er ratlos auf die offene Balkontür zu. Er brauchte erst einmal frische Luft.
    Schon kurz bevor er über die Schwelle trat, bemerkte er eine Veränderung. Irgendetwas war falsch – abgesehen von der toten Maura auf seinem Bett. Die Luft war kühler geworden und es roch nach frisch gemähtem Gras – in Vegas? Noch bevor er den Gedanken beendet hatte, war es zu spät. Er trat durch die Tür.

    Tom hatte schon ein paar Momente erlebt, in denen er das Gefühl gehabt hatte, die Realität verschwimme mit einem Albtraum von der Nacht davor. Als er in seinem ersten Job gefeuert worden war. Als er das erste Mal die Fahrprüfung versaut hatte. Aber das hier war anders. Die Absurdität der Realität, der er nun gewahr wurde, erschlug ihn mit solch einer Wucht, dass er nicht anders konnte, als einfach ruhig stehen zu bleiben und abzuwarten, ob sie verschwamm und er aus dem Traum erwachen würde.
    Er befand sich nicht auf seinem Balkon in Las Vegas. Er stand auf einem schlecht asphaltierten Schotterweg. Es war dunkel, tief in der Nacht. Nur ein grotesk grinsender Vollmond erhellte den Pfad, der vor ihm lag. Die Nacht war kühl, aber nicht sehr. Es mochte um die sechzehn Grad sein. Celsius natürlich, nicht Fahrenheit. Die Einteilung der Amerikaner hatte er nie verstanden. War er überhaupt noch in Amerika? Links und rechts von ihm lagen Kornfelder. Auf der rechten Seite konnte er ein frisch gemähtes Feld erkennen. Daher also war der Grasgeruch gekommen.
    Seine Gedanken kreisten nicht mehr. Sie schienen zu schweben, als wollten sie sich zum Himmel erheben und der Erde Lebewohl sagen.
    Langsam drehte er sich um, um zu sehen, ob sich hinter ihm noch eine Tür befand, die ihn zurück in sein Hotelzimmer führen konnte. Wie er befürchtet hatte, war dort keine Tür. Nur ein langer, dunkler Weg, der auf beiden Seiten vom Bäumen und Felder gesäumt war und ins Nichts zu führen schien.
    Tom drehte sich wieder in die Richtung, in die er zuerst geblickt hatte, und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Es war eine Lektion, die ihn das Leben gelehrt hatte, dass auch in den verrücktesten Situationen die beste Lösung war, einfach den nächsten Schritt zu tun. Zwar hatte er noch nie etwas wie das hier erlebt, aber wo ein Weg war, da musste ein Ziel sein. Nach den ersten zaghaften Schritten ging er schneller, immer schneller, bis er nur noch ein einsamer Wanderer in der Nacht war.

    Er wusste nicht, wie lange er schon auf dieser Straße gelaufen war, ohne etwas anderes außer Feldern und Bäumen zu sehen. Vielleicht zwei Stunden, vielleicht drei. Er hatte schon nicht mehr daran geglaubt. In seinem Inneren war schon fast die Überzeugung gewachsen, dass er irgendwo war, wo es keine Menschen gab. Dass er nie wieder Menschen sehen würde.
    Als er das Ortsschild erblickte, jubelte sein Herz. Was immer hier los war, nun konnte es nur besser werden.
    „Shakespeare’s Lot, Nebraska“, las er.
    Seine Gedanken überschlugen sich wieder. Zwar konnte er sich überhaupt nicht erklären, wie er von seinem Hotelzimmer auf den Schotterweg gekommen war, aber nun, wo er eine geografische Manifestation erfuhr, erschien es ihm noch absurder. Wie war er von einem Hotelzimmer in Las Vegas, Nevada plötzlich mitten ins ländliche Nebraska gekommen?
    „Shakespeare’s Lot“, sagte er sich langsam vor. Er hatte an der Uni damals auch ein paar Semester Anglistik belegt, allein, um sein Englisch zu verbessern. Shakespeares Gesamtwerk war ihm rauf und runter vertraut, aber dass sich Shakespeares Schicksal in einem kleinen Kaff in Nebraska befinden sollte, unterstrich nur

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