Kurz bevor dem Morgen graut
noch die Unbegreiflichkeit seiner Situation.
Tom beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und machte seine ersten Schritte in diesem kleinen amerikanischen Dorf, von dem er noch nie gehört hatte. Shakespeare’s Lot lag völlig im Dunklen, die braven Nebraska-Farmer schliefen offenbar noch alle in ihren Betten.
Nur aus dem Fenster eines einzigen Hauses drang ein schwacher Lichtschein, als ob dort eine Kerze brennen würde. Dort wollte er sein Glück versuchen.
Es war ein einfaches Farmhaus, nur aus Holz gebaut. Es schien von außen nur aus einem einzigen Stockwerk zu bestehen, wahrscheinlich zwei oder drei Zimmer, vermutlich mit einem Plumpsklo hinten auf dem Hof.
Tom klopfte an die morsche hölzerne Eingangstür.
„Keine Angst“, rief er auf Englisch, „ich will Ihnen nichts Böses. Ich habe mich nur verlaufen und benötige Hilfe.“
Es kam keine Antwort. Er schlich sich an das Fenster, aus dem der Lichtschein gekommen war, und sah hinein. Ein blondes Mädchen von neun bis zehn Jahren saß in einem weißen Nachthemd auf einer Holzbank, vor sich eine Kerze auf einem kleinen hölzernen Tisch.
Tom klopfte an das Fenster.
„Nicht erschrecken“, rief er. „Ich bin kein Einbrecher. Ich habe mich nur verlaufen.“
Das Mädchen drehte sich ganz ruhig zum Fenster und blickte Tom seltsam verklärt an. Dann machte sie eine einladende Kopfbewegung, als wolle sie Tom zum Eintreten auffordern.
Wieder leicht schwankend ging Tom zurück zur Tür. Sein Herz begann wieder zu hämmern. Siedendheiß fiel ihm ein, dass seine Herzpillen natürlich im Hotelzimmer lagen. Wer denkt denn auch daran, die mitzunehmen, wenn er nur auf den Hotelbalkon geht, dachte Tom und musste fast darüber lachen.
Mit einem mulmigen Gefühl drückte Tom gegen die Eingangstür. Sie musste wohl offen sein, denn das Kind hatte keine Anstalten gemacht, aufzustehen. Tatsächlich konnte er sie leicht nach innen aufschieben.
Er trat in ein karges Zimmer, das die Küche zu sein schien. Ein modriger Geruch schlug ihm entgegen, aus altem Schweiß und Spinnweben. Auch lag ein leichtes Aroma von fauligem Fleisch in der Luft. Tom hoffte inständig, dass sich nur irgendwo im Haus eine geschlachtete Kuh befand, die zu lange ungekühlt herumgelegen war. Bei allem, was ihm in den letzten Stunden passiert war, würde er sich nicht wundern, auf noch mehr Leichen zu stoßen.
Er wandte sich nach rechts, wo sich das Zimmer befinden musste, in dem das Mädchen gesessen hatte. Tatsächlich war dort eine angelehnte Tür, durch die der Kerzenschein ein fahles Licht auf den unebenen Holzboden warf. Er ging langsam auf die Tür zu, an der ein Stück Papier hing. Der Lichtschein, der durch die Tür fiel, reichte aus, um Tom lesen zu lassen, was dort stand.
Es war eine Szene aus einem Shakespeare-Stück, Tom kannte es. Titus Andronicus. Toms Meinung nach das Schlechteste und Grausigste, was Shakespeare je geschrieben hatte. Akt II – Szene V. Toms Knie wurden weich. Er wusste, welche Szene das war.
Daselbst.
Demetrius und Chiron kommen mit der …
Tom las nicht weiter. Er ahnte, was jetzt kam. Seine ohnehin schon weichen Knie zitterten, der Presslufthammer in seiner Brust bahnte sich nun auch seinen Weg in Toms Kopf. Das Mädchen hatte apathisch gewirkt, als er durch das Fenster gesehen hatte. Konnte es sein, dass die geschmackloseste und grausamste Szene aus Shakespeares Gesamtwerk hier nachgestellt worden war? Er hatte keine Lust, es herauszufinden, aber der Albtraum, in dem er sich befand, war schon zu weit fortgeschritten. Er trat ein.
Das Mädchen saß immer noch stumm an dem Tisch und blickte in die Kerzenflamme. Als Tom auf sie zuging, hob sie den Blick. Toms Blut gefror. Er kannte ihren Blick und er kannte den Rotstich in ihren Augen. Es waren dieselben Augen wie die der Kleinen, die er sich vor zwanzig Jahren auf seinem Hotelzimmer genommen hatte. Dieselben Augen wie Maura von heute Nacht.
„Was ist passiert mit dir?“, flüsterte Tom, obwohl er wusste, was jetzt kommen musste. Die Szene war vor langer Zeit geschrieben worden.
Das Mädchen hob stumm die Arme und Tom hatte das Gefühl, sein Kopf müsse jeden Moment explodieren. Gleichsam der geschändeten Lavinia aus Titus Andronicus waren die Handgelenke des Mädchens zwei blutige Stümpfe. Man hatte ihr die Hände abgehackt, wahrscheinlich mit einer Axt.
„Sag nichts!“, schrie Tom bettelnd, weil er auch jetzt das Nächste ahnte.
Das Mädchen öffnete den Mund und ein Schwall frischen
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