Kurz bevor dem Morgen graut
versuchte, sie zu öffnen, aber sie war von innen abgesperrt.
„Kiandra?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja“, hörte ich sie leise antworten. Sie hatte geweint, das hörte man. Nein, ich korrigiere: Sie weinte noch.
„Alles in Ordnung?“ Eine dümmere Frage hätte ich wohl kaum stellen können.
„Nein“, sagte sie. „Bitte geh.“
„Ich soll gehen?“, fragte ich, nach Fassung ringend.
„Ja“, schluchzte sie von innen.
„Wie soll ich denn gehen? Ich habe kein Auto und ich kann schlecht mitten in der Nacht allein durch den Wald streifen. Vor allem wenn dieser Kerl da draußen ist! Dein Vater ... oder wer auch immer!“
„Er wird dir nichts tun“, war ihre tränenerstickte Antwort.
„Das spielt doch keine Rolle! Kiandra, komm da raus!“
„Ich komme nicht raus“, versteifte sie sich. „Ich will nicht, dass du mich so siehst.“
„Wie soll ich dich denn sehen? Hat er dir etwas getan? Hat er dich verletzt?“
„Nein, hat er nicht, aber ... Leo, ich wollte nicht, dass das alles so endet!“
Das war zu viel. Ich war nie ein Held, aber in diesem Moment wollte ich einer sein. Woher ich die Kraft und die Energie hernahm, weiß ich nicht. Aber ich warf mich mit aller Wucht gegen die Tür und brach sie auf.
Als ich Kiandra sah, schrie ich. Ich schrie so laut, dass ich vier Wochen lang nur noch sehr heiser sprechen konnte. Sie werden sich noch daran erinnern. Ich hatte viel erwartet. Ein zerkratztes Gesicht, einen zerschundenen Körper ... aber nicht das.
Kiandra war nicht verletzt. Sie war ... verfault. Anders kann ich es heute noch nicht beschreiben. Der Traumkörper, den ich noch vor einer Stunde mit Intimitäten verwöhnt hatte, er war eine einzige faltige, runzlige Masse. Die einstmals zarten Brüste hingen wie welkes Dörrobst von ihrem Körper. Ihr Haar war aschgrau, ihr Gesicht das einer alten Frau. Sie schien innerhalb der letzten Minuten um etwa siebzig Jahre gealtert zu sein.
Bevor ich Fragen stellen konnte, bahnte sich etwas seinen Weg aus meinem Mund, das schneller war als jede Frage. Ich übergab mich in einem weiten Schwall vor Kiandras Füße.
Sie sah mich nur mit einem lethargischen Blick an und schluchzte.
„Sie haben es mir wieder genommen“, murmelte sie vor sich hin. „Sie haben es mir wieder genommen.“
„Was ... genommen?“, grunzte ich, mir den Mund abwischend.
„Die Jugend“, hauchte sie.
„Kiandra ... was ... Scheiße, was ist hier los?“
„Sie erfüllen Wünsche“, sagte sie leise. „Aber das kostet Geld. Viel Geld. Mehr als ich hatte. Ich habe mir gewünscht, wieder jung zu sein, einmal noch, bevor ich gehen muss. Ich habe das so genossen, wieder siebzehn zu sein, mit dir zusammen zu sein ... aber mein Scheck ist geplatzt. Darum hat er mich aufgesucht, damals, als wir es in meinem Haus zum ersten Mal getan haben. Ich habe ihm gesagt, ich besorge das Geld und gestern war der letzte Tag, an dem ich es hätte auftreiben können. Ich habe es natürlich nicht. Darum bin ich mit dir hierher gekommen. Ich wollte noch eine letzte glückliche Nacht verbringen, bevor sie mir alles wieder wegnehmen. Aber sie haben mich gefunden ...“
Eine Information aus Kiandras Redefluss erreichte erst jetzt mein Gehirn.
„Als wir es in deinem Haus zum ersten Mal getan haben?“, fragte ich in düsterer Vorahnung. „Das heißt, du bist ... Sie sind ...“
„Ich bin Margarethe Schuster“, bestätigte sie. „Kiandra war nur eine falsche Identität, die sie mir besorgt haben. Den Namen habe ich mir selbst ausgesucht.“
„Das heißt ... ich habe mit einer uralten Frau geschlafen?“, fragte ich entsetzt.
Ich weiß, Herr Seidel, Sie sind jetzt in einem ähnlichen Alter wie Margarethe Schuster damals. Ihre Frau vermutlich auch. Noch einmal: nichts für ungut. Aber für einen 17- jährigen ist die Vorstellung, mit einer 85- jährigen im Bett gewesen zu sein und der Anblick ihres Körpers schon eklig. Das werden Sie verstehen.
„Das ist alles, was dich interessiert?“, fragte sie weinend und verließ nackt das Badezimmer.
„Wo willst du denn hin?“, fragte ich.
„Nach Hause.“
„Nackt?“
„Mich wird im Auto schon niemand sehen. Was soll ich denn auch anziehen? Die Kleidung eines 17-jährigen Mädchens?“
„Und wie komme ich nach Hause?“
„Laufen, Leo. Du kannst ja bis Sonnenaufgang damit warten. Und noch was: Man wird dir Fragen stellen wegen Kiandra. Du darfst nie ein Wort verlieren über das, was in dieser Nacht passiert ist. Sie sind sehr
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