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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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auf den verschnörkelten
     Balkonen und den ornamentalen Karyatiden an den Fin-de-Siècle-Häusern der Melnikow-Straße, dämpfte die Töne der Sonntagsglocken
     aus den goldenen Kuppeltürmen und breitete sich unschuldig wie eine Kinderdecke über die Hänge von Babi Jar.
    Er steuerte gerade auf das Sportstadion zu, als von der anderen Straßenseite her ein Schneeball an seinem Ohr vorbeizischte.
     Als er sich umdrehte, um zu sehen, von wem der Schneeball gekommen war, traf ihn ein anderer voll ins Gesicht. Nikolai rang
     nach Atem und bückte sich, um seine Mütze wieder aufzuheben.
    »He – he, Nikolashka! Nikolashka Klugscheißer! In wen bist du verknallt? An wen denkst du beim Wichsen?«
    Es waren die zwei Brüder Sovinko, die es auf ihn abgesehen hatten. Vor einiger Zeit waren sie von der Schule abgegangen –
     sie waren dreizehn, vierzehn Jahre alt, so alt wie mein Vater. Große Jungen mit rasierten Köpfen, die mit ihrer Mutter und
     drei Schwestern in einer Zweizimmerwohnung hinter dem Bahnhof lebten. Ihr Vater war Forstarbeiter gewesen und bei einem Arbeitsunfall
     in der Nähe von Gomel ums Leben gekommen. Mutter Sovinko hielt die Familie als Wäscherin über Wasser und stattete ihre Söhne
     mit den abgelegten Kleidungsstücken ihrer Kunden aus.
    »He   – Grips-Arsch! Bist du etwa verknallt in Lilia? Oder bist du verknallt in Ludmilla? Oder in Katja? Hast du ihr schon deinen
     Schwanz gezeigt?«
    Der Größere von den beiden bombardierte ihn wieder mit Schneebällen.
    »Ich bin in überhaupt niemanden verknallt«, sagte mein |163| Vater. »Ich interessiere mich für Sprachen und Mathematik.«
    Die Jungen wedelten spöttisch mit ihren frostroten Händen in der Luft herum und brüllten: »He, wenn du nicht auf Mädels stehst
     – stehst du vielleicht mehr auf Jungen?«
    »Bloß weil ich nicht in ein Mädchen verknallt bin, folgt doch nicht gleich logischerweise, dass ich auf Jungen stehen muss.«
    »Hast du das gehört? Folgt doch nicht gleich logischerweise! Logischerweise! Logisch! Hast du gehört – sein Schwanz ist logisch!
     He – he, Nikolashka, zeig uns doch mal deinen logischen Schwanz.«
    Sie hatten die Straßenseite gewechselt und kamen nun immer näher. »Wollen wir seinen Schwanz mal ein bisschen abkühlen?«
    Sie setzten sich in Trab. Der jüngere der beiden Brüder war als Erster bei ihm und stopfte ihm eine Handvoll Schnee hinten
     in die Hose. Nikolai wollte davonrennen, doch das Pflaster war glatt, und er rutschte aus und fiel hin. Die beiden Jungen
     stürzten sich auf ihn und rieben ihn mit Schnee ein, im Gesicht, am Hals, auf Rücken und Beinen. Dann zogen sie ihm die Hosen
     herunter. Der Größere packte seine Schlittschuhe, zerrte an den Bändern um seinen Hals und zog sie zu. Nikolai schrie vor
     Angst und schlug mit Händen und Füßen um sich.
    Im selben Moment tauchten am Ende der Straße drei Gestalten auf. Nikolai, der bäuchlings im Schnee lag, sah sie. Es war ein
     großes Mädchen, das ein kleines Mädchen und einen Jungen an der Hand führte.
    »Hilfe! Hilfe!«, schrie er.
    Angesichts der sich vor ihnen abspielenden Szene blieben die drei sekundenlang stehen, unschlüssig, ob sie wegrennen oder
     sich einmischen sollten. Doch dann preschte der kleine Junge vor.
    |164| »Lass ihn los!«, schrie er, warf sich auf den jüngeren der beiden Angreifer und klammerte sich an seinen Beinen fest. Das
     große Mädchen ging nun auch dazwischen und zog den älteren an den Haaren.
    »Lass los, du! Lass ihn in Ruhe!«
    Der Junge versuchte sie abzuschütteln und griff mit beiden Händen nach ihren Handgelenken. Das gab Nikolai die Chance, sich
     freizustrampeln.
    »Ach – ist das dein Freund? Bist du verknallt in ihn?«
    »Hau bloß ab, sonst hole ich meinen Vater, und der haut dir mit seinem Säbel die Finger ab und steckt sie dir in die Nase!«
     Ihre Augen blitzten.
    Das kleine Mädchen hatte die Hände voll Schnee und rieb dem großen Jungen die Ohren damit ein. »Steckt sie dir in die Nase!
     Steckt sie dir in die Nase!«, krähte sie ein ums andere Mal.
    Die Brüder wanden sich und schlugen um sich und versuchten grinsend, die Mädchen zu fassen zu kriegen. Für sie gab es nichts
     Schöneres als eine nette Rauferei, und die Kälte störte sie überhaupt nicht. Der Himmel über ihnen war wolkenlos blau, und
     die Sonne strahlte und ließ den Schnee aufglitzern. Doch dann betraten Erwachsene die Szene, schrien sie an und schwangen
     Stöcke. Die Sovinkos zogen sich ihre

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