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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Mützen über die Ohren und spurteten schnell und wendig wie Schneehasen von dannen, bevor
     irgendwer ihrer habhaft werden konnte.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte das große Mädchen. Es war Nikolais Klassenkameradin Ludmilla Otscheretko mit ihren kleinen
     Geschwistern. Auch sie hatten Schlittschuhe um den Hals hängen. (Die Sovinkos waren natürlich viel zu arm, um eigene Schlittschuhe
     zu haben.)
     
    Im Winter wurde das Sportstadion in Kiew immer mit Wasser geflutet, das auf der Stelle gefror und zur Eisbahn wurde |165| , und alle jungen Kiewer trafen sich dort zum Schlittschuhlaufen. Sie sausten im Kreis herum, gaben an, gingen zu Boden, schubsten
     sich gegenseitig und taumelten einander in die Arme. Niemanden kümmerte es, was in Moskau geschah oder an den vielen Fronten
     des Bürgerkriegs: Man traf sich auf der Eisbahn, drehte ein paar Runden miteinander und verliebte sich. Nikolai und Ludmilla
     fassten sich an den Händen und wirbelten auf ihren Schlittschuhen herum, bis sie schwindlig wurden und die Sonne und die Wolken
     und die goldenen Kuppeln der Kirchen sich mit ihnen drehten – schneller und immer schneller und schneller, und sie lachten
     wie Kinder (die sie ja auch noch waren) und lachten und drehten sich weiter und weiter, bis sie nicht mehr konnten und übereinander
     aufs Eis purzelten.

|166| 14.
Ein kleiner tragbarer Fotokopierer
    Das nächste Mal fahre ich an einem Vormittag mitten in der Woche zu Vater, ohne Mike. Es ist ein milder, heller Frühlingstag,
     in den Vorgärten blühen die Tulpen, an den Bäumen zeigen sich erste grüne Blattspitzen. In Mutters Garten kommen die Pfingstrosen
     schon aus der Erde und strecken ihre roten Fäuste durch die dicke Unkrautschicht auf den Blumenbeeten.
    Vor dem Haus steht ein Polizeiauto. Ich parke meinen Wagen daneben und gehe schnurstracks in die Küche, wo Valentina mit dem
     Dorfpolizisten Kaffee trinkt und sich bestens zu amüsieren scheint. Nach der wunderbaren Frühlingsluft draußen ist es hier
     drinnen fast unerträglich heiß, alle Fenster sind geschlossen und die Gastherme bollert vor sich hin. Valentina trägt einen
     Stretch-Minirock und einen weichen Pulli in Babyrosa mit einem aufgenähten weißen Herzchen als Tasche. Sie thront auf einem
     hohen Hocker, hat die Beine übereinander geschlagen und lässt ihre hochhackigen zehenfreien Sandaletten an den bloßen Füßen
     auf und ab tanzen. (Schlampe!) Der Polizist wippt mit gespreizten Beinen auf seinem Stuhl gegen die Wand. (Ordinärer Blödmann!)
     Beide verfallen bei meinem Eintritt augenblicklich in Schweigen und schauen mich so böse an, als störe ich sie bei einem privaten
     Rendezvous. Erst als ich meinen Namen nenne, stemmt sich der Polizist in die Höhe und |167| streckt mir die Hand hin. Es ist der Constable des Dorfes, mit dem ich wegen des Vorfalls mit dem Geschirrtuch telefoniert
     hatte.
    »Bin nur eben hereingekommen, um nach Ihrem Vater zu sehen«, sagt er.
    »Wo ist er denn?«, frage ich.
    Valentina zeigt auf die provisorische Tür, die Mike zwischen Küche und Esszimmer – das jetzt Vaters Schlafzimmer ist – eingesetzt
     hat. Vater hat sich eingesperrt und weigert sich herauszukommen.
    »Papa, ich bin’s, Nadia«, rede ich ihm gut zu. »Du kannst die Tür jetzt aufmachen. Es ist alles in Ordnung, ich bin ja da.«
    Es dauert endlos, bis von drinnen der Riegel zurückgeschoben wird und mein Vater herauslugt. Bei seinem Anblick trifft mich
     fast der Schlag. Er ist unglaublich abgemagert und seine Augen liegen so tief in den Höhlen, dass sein Kopf aussieht wie ein
     Totenschädel. Das weiße Haar hängt ihm in langen Strähnen in den Nacken. Bekleidet ist er nur am Oberkörper. Ich starre seine
     fürchterlich dünnen weißen Knie und Waden an.
    Im selben Moment sehe ich, wie Valentina und der Polizist Blicke tauschen. Valentina scheint zu sagen: »Verstehen Sie jetzt,
     was ich meine?«, während der Polizist etwas wie »Unglaublich!« signalisiert.
    »Papa«, flüstere ich, »wo hast du denn deine Hosen? Zieh doch bitte Hosen an.«
    Wortlos zeigt er mit dem Finger auf einen Haufen Kleidungsstücke auf dem Boden, und es bedarf auch gar keiner weiteren Erklärung,
     denn der Geruch, den ich im selben Moment in die Nase bekomme, ist unverkennbar.
    »Er hat sich vollgeschissen«, sagt Valentina.
    Der Polizist versucht ein Grinsen zu unterdrücken.
    »Was ist passiert, Papa?«
    |168| »Sie hat   …«, er deutet auf Valentina, »sie   …«
    Valentina hebt die

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