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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Widerstand gegen eine Scheidung aufgibt.«
    »Nein, das dauert zu lang. Wir brauchen eine einstweilige Verfügung, um Valentina sofort aus dem Haus zu bekommen. Die Scheidung
     kann später erfolgen.«
    »Aber glaubst du, dass er da mitmacht? Er ist so schwer einzuschätzen, noch dazu, wo sie ihn doch jetzt wieder an ihrem Busen
     herumfummeln lässt.«
    »Er ist einfach verrückt. Völlig verrückt. Egal was der Psychiater sagt.«
     
    Dies war nicht das erste Mal, dass ein Psychiater meinem Vater bescheinigt hat, er sei normal. Es gab mindestens ein anderes
     Mal, vor über dreißig Jahren, als ich mich in meiner – wie er es nannte – trotzkistischen Phase befand. Ich fand es ganz zufällig
     heraus. Meine Eltern waren ausgegangen |185| und ich stöberte in ihrem Schlafzimmer herum – in ebendem Zimmer mit den schweren Eichenmöbeln und den merkwürdig gemusterten
     Vorhängen, das Valentina jetzt in ihr Boudoir verwandelt hat. Was ich eigentlich suchte, weiß ich nicht mehr, aber ich weiß
     noch, dass ich auf zwei Dinge stieß, die mich äußerst schockierten.
    Das erste lag auf dem Boden unter den Betten. Es war ein zerdrücktes, mit klebriger weißer Flüssigkeit gefülltes Plastiksäckchen.
     Entsetzt starrte ich es an. Diese intimen Absonderungen, dieser schamvolle Beweis dafür, dass meine Eltern öfter Sexualkontakt
     miteinander gehabt hatten als nur die beiden Male, als Vera und ich gezeugt worden waren. Vaters Samen!
    Das zweite war der Bericht eines Psychiaters des Kreiskrankenhauses von Peterborough aus dem Jahr 1961.   Er lag zwischen anderen Papieren in einer Schublade der Spiegelkommode. Darin hieß es, dass mein Vater in die Sprechstunde
     gekommen war, weil er glaubte, er litte an einem pathologischen Hass auf seine Tochter (damit war ich gemeint, nicht Vera!).
     Ein Hass, der so obsessiv und überwältigend war, dass er fürchtete, er sei ein Zeichen von Geisteskrankheit. Der Psychiater
     hatte ausführlich mit meinem Vater gesprochen und war zu dem Schluss gekommen, dass es in Anbetracht der Erfahrungen, die
     Vater im Kommunismus gemacht hatte, keineswegs überraschend, sondern vielmehr ganz natürlich war, dass er seine Tochter wegen
     ihrer kommunistischen Anschauungen hasste.
    Ich las dieses Schreiben mit wachsendem Erstaunen und schließlich voller Zorn, sowohl auf meinen Vater als auch auf diesen
     anonymen Psychiater, der es sich leicht gemacht und Vaters Hilferuf einfach nicht zur Kenntnis genommen hatte.
    Wie dumm sie waren, alle beide! Mutter, deren Familie unaussprechliches Unrecht hatte erdulden müssen und die |186| weit mehr Grund gehabt hätte, mich wegen meiner kommunistischen Einstellung zu hassen, hat auch in meinen wildesten Jahren
     nie aufgehört, mich zu lieben, obwohl die Dinge, die ich von mir gab, ihr in der Seele wehgetan haben müssen.
    Ich legte die Papiere wieder in die Schublade zurück. Und ich wickelte das gebrauchte Kondom in Zeitungspapier und warf es
     in den Mülleimer, als könnte ich dadurch meine Mutter vor seinem schmachvollen Inhalt bewahren.

|187| 16.
Meine Mutter trägt einen Hut
    Tante Shura entband Mutter von ihrem ersten Baby. Vera kam im September 1937 in Lugansk alias Woroshilowgrad zur Welt. Sie
     war ein unglückliches Baby. Mit ihrem ständigen Weinen, das sich anhörte, als würde sie jeden Moment ersticken, brachte sie
     Nikolai zur Verzweiflung. Tante Shura liebte Ludmilla, aber sie mochte Nikolai nicht, und auch ihr Mann   – Mitglied der Kommunistischen Partei und Freund von Marschall Woroshilow – mochte ihn nicht. Das Leben bei Tante Shura wurde
     zunehmend spannungsgeladen. Man prallte aufeinander, Türen wurden zugeschlagen, die Stimmen immer lauter, und das hellhörige
     Holzhaus kam nicht mehr zur Ruhe. Schon wenige Wochen nach Veras Geburt zogen Ludmilla und Nikolai mit ihr zu Ludmillas Mutter,
     die, seit sie Großmutter geworden war, von ihnen Baba Sonia genannt wurde. Baba Sonia hatte eine neue Dreizimmerwohnung in
     einem Betonwohnblock auf der anderen Seite der Stadt.
    Man saß eng aufeinander. Nikolai, Ludmilla und Vera bewohnten ein Zimmer, Baba Sonia das zweite, und das dritte war an zwei
     Studenten vermietet. Ludmillas jüngere Geschwister studierten, und wenn sie in den Ferien nach Hause kamen, teilten sie sich
     das Zimmer mit ihrer Mutter. Es gab kein warmes Wasser – mitunter auch kein kaltes   –, und auch wenn die Hungersnot jetzt vorbei war, waren Lebensmittel |188| immer noch rar. Das Baby wimmerte und

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