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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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weinte pausenlos. Es saugte heftig an Ludmillas Brüsten, doch Ludmilla war krank und
     blutarm und hatte nur wenig Milch.
    Oft nahm Baba Sonia das weinende Kind in die Arme, ließ es auf ihrem Schoß auf und nieder wippen und sang: »Hinter dem Kaukasus
     hatten wir uns erhoben, hatten uns erhoben. Hey! Da kamen die Magyaren, kamen die Magyaren, in Scharen. Hey!«
    Tante Shura riet: »Nimm einen Apfel, steck Eisennägel hinein, lass ihn über Nacht stehen, zieh die Nägel wieder raus und iss
     ihn. Auf diese Weise bekommst du nicht nur Vitamine, sondern auch Eisen.«
    Nikolai, der in Lugansk keine passende Arbeit finden konnte, drückte sich in der Wohnung herum, verfasste Gedichte und stand
     jedem im Weg. Das nicht enden wollende Babygeplärr ging ihm auf die Nerven, und er ging Ludmilla auf die Nerven. Im Frühjahr
     1938 kehrte er nach Kiew zurück.
    Im Herbst desselben Jahres bekam Ludmilla endlich einen Studienplatz für Veterinärmedizin in Kiew zugeteilt. Möglicherweise
     hatte der Kranführerjob sie tatsächlich zur Proletarierin gemacht. Aber jetzt schien es ein grausamer Scherz. Denn mit einem
     Baby und einem Mann, der den ganzen Tag arbeitete, konnte sie wohl kaum studieren.
    »Mach es!«, sagte Tante Shura. »Fahr nach Kiew. Ich nehme Verotschka zu mir.«
    Ludmilla musste sich entscheiden. Entweder für Mann und Veterinärstudium, oder für ihr Kind. Tante Shura kaufte ihr einen
     neuen Mantel und eine Fahrkarte für die Eisenbahn und schenkte ihr einen extravaganten Hut mit Seidenblumen und einem Schleier.
     Ludmilla küsste Mutter und Tante am Bahnhof zum Abschied, die kleine Verotschka hing an ihrem Hals und weinte. Sie mussten
     sie zu zweit festhalten, als Ludmilla in den Zug stieg.
     
    |189| »Wie lange hat es gedauert, bis du sie wiedergesehen hast?«
    »Fast zwei Jahre«, sagt Vera. »Sie blieb bis zum Kriegsausbruch in Kiew. Dann kam sie mich holen. Weil es in der Stadt zu
     gefährlich war, fuhren wir zu Baba Nadia. Im Dorf war es sicherer.«
    »Du musst dich gefreut haben, als Mutter wieder da war.«
    »Ich habe sie nicht wiedererkannt.«
    Eines Tages stand eine magere, zerzauste Frau auf der Schwelle und wollte Vera in die Arme nehmen. Das Kind begann zu weinen
     und um sich zu treten.
    »Aber kennst du denn deine Mutter nicht mehr, Verotschka?«, fragte Tante Shura.
    »Das ist nicht meine Mutter«, schrie Vera. »Meine Mutter trägt einen Hut!«
     
    Wir haben noch ein Foto von Mutter mit diesem Hut. Sie hat den Schleier zurückgeschlagen und ein mädchenhaftes Lachen im Gesicht.
     Vater muss es kurz nach ihrer Ankunft in Kiew aufgenommen haben. Ich entdeckte es zwischen anderen alten Fotografien und Briefen
     in derselben Schublade, in der ich einst auf das Schreiben des Therapeuten gestoßen war. Diesen Brief gibt es schon lange
     nicht mehr, aber die Fotos liegen jetzt in einer Schuhschachtel im Wohnzimmer bei den vor sich hin faulenden Äpfeln, der Gefriertruhe
     mit den Fertiggerichten, dem tragbaren Fotokopierer und dem Staubsauger für gebildete Leute, der seit längerem, weil er ein
     ausländisches Fabrikat ist, für das man hierzulande keine Staubsaugerbeutel bekommt, mit geöffneter Klappe tatenlos in der
     Ecke steht und den Blick auf sein gebildetes Innenleben freigibt.
    Dieses Zimmer ist immer noch umkämpftes Gelände. Wenn Valentina zu Hause ist, sitzt sie hier vor dem auf volle Lautstärke
     aufgedrehten Fernsehapparat und einem elektrischen |190| Heizöfchen, weil Vater zum Schutz seiner Äpfel den Thermostatknopf am Heizkörper so fixiert hat, dass man ihn nicht anstellen
     kann. Vater hat keinen Sinn fürs Fernsehen – die meisten Sendungen sagen ihm schlicht nichts. Er sitzt in seinem Schlafzimmer,
     hört im Radio klassische Musik oder liest. Aber wenn Valentina nicht da ist, setzt er sich gern in sein Wohnzimmer zu seinen
     Äpfeln und seinen Fotos und lässt den Blick aus dem Fenster über die gepflügten Äcker und Felder schweifen.
     
    Auch an diesem nassen Mainachmittag sitzen wir hier, trinken Tee und schauen zu, wie der Regen gegen die Scheiben trommelt
     und draußen die Fliederbüsche peitscht. Ich versuche, unser Gespräch von der Entwicklung des Düsenantriebs in der Ukraine
     der dreißiger Jahre weg- und zum Thema Scheidung hinzulenken.
    »Ich weiß, dass dir diese Idee nicht gefällt, Papa, aber ich glaube, es ist die einzige Möglichkeit für dich, deine Freiheit
     wiederzuerlangen.«
    Er schaut mich stirnrunzelnd an. »Wieso redest jetzt auch du

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