Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
den Papieren genommen und unter seinem Bett versteckt hat.
(Den sie selbstverständlich gefunden hat, weil Vater es natürlich nicht geschafft hat, ihn rechtzeitig wieder in den Kofferraum
ihres Wagens zurückzubringen.) Oder vielleicht hat ihr ja auch irgendwer – Mrs. Zatshuk? – erklärt, was ihr Rechtsanwalt mit dem letzten Satz seines Briefes gemeint hat.
Die Kopie dieses Rechtsanwaltsschreibens habe ich meiner Schwester geschickt. Worauf die Scheidungsexpertin der Schickt-sie-alle-zurück-Aktivistin
einen Zeitungsausschnitt zukommen ließ.
Darin steht die Geschichte eines Mannes aus dem Kongo, der fünfzehn Jahre lang in England lebte und jetzt abgeschoben wird,
weil er damals illegal ins Land kam. Und das, obwohl er sich inzwischen hier ein neues Leben aufgebaut, ein Geschäft eröffnet
und sich durchaus einen Namen gemacht hat. Jetzt hat seine Kirchengemeinde eine Kampagne für ihn gestartet.
»Ich glaube, das Blatt wendet sich«, sagt Vera. »Die Leute scheinen endlich aufzuwachen.«
Ich bin allerdings zum gegenteiligen Schluss gekommen – ich finde, die Leute schlafen über unserer Sache ein, anstatt aufzuwachen.
Die fernen Stimmen im Lunar House schlafen. Die näselnden Stimmen aus den ausländischen Konsulaten schlafen. Das Beamtentrio
der Einwanderungsbehörde |180| in Nottingham schläft – jedenfalls bewegen sie sich wie Schlafwandler durch die einzelnen Stadien des Verfahrens. Nichts passiert.
»Ach Vera, diese ganze Berichterstattung über Abschiebungen, diese Kampagnen und Leserbriefe in den Zeitungen – das ist alles
nur, um die Illusion zu vermitteln, es würde sich etwas tun. In den meisten Fällen geschieht gar nichts. Überhaupt nichts.
Es ist nur eine Scharade.«
»Ich habe nicht erwartet, von dir irgendetwas anderes zu hören, Nadeshda. Dein Herz hat schon immer für die andere Seite geschlagen.«
»Es geht nicht um politische Sympathien oder Antipathien, Vera. Hör mir doch einfach mal zu. Der Fehler, den wir gemacht haben,
war, dass wir dachten, sie würden sie wegschaffen. Aber das tun sie nicht. Wir selbst müssen sie wegschaffen.«
In den Stilettos der Schickt-sie-alle-zurück-Aktivistin hat sich meine Gangart verändert. Bislang stand ich allem, was mit
Immigration zu tun hatte, liberal gegenüber. Ich fand, jeder Mensch solle sich selbst aussuchen können, wo er leben will.
Doch jetzt stelle ich mir Horden von Valentinas vor, die in Ramsgate, Felixstowe, Dover und Newhaven an Land gehen, die Zoll-
und Passkontrollen überrennen, zielstrebig, unaufhaltsam, wahnsinnig.
»Aber du ergreifst immer Partei für sie.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Das kommt wohl, weil du Sozialarbeiterin bist. Du kannst gar nicht anders.«
»Vera, ich bin keine Sozialarbeiterin.«
»Nicht?« Schweigen in der Leitung. Nur das Telefon knistert. »Was bist du dann?«
»Ich bin Dozentin.«
»Ach – Dozentin. Und was dozierst du?«
»Soziologie.«
|181| »Na, sag ich doch.«
»Soziologie ist etwas anderes als Sozialarbeit.«
»Ach? Was denn?«
»Soziologie handelt von der Gesellschaft. Von den verschiedenen Kräften und Gruppen in einer Gesellschaft und warum sie sich
so verhalten, wie sie sich verhalten.«
Pause. Sie räuspert sich.
»Aber – aber das ist ja hochinteressant.«
»Ja, ist es. Finde ich wenigstens.«
Neuerliche Pause. Ich höre, wie Vera sich am anderen Ende der Leitung eine Zigarette anzündet. »Und warum verhält Valentina
sich so, wie sie sich verhält?«
»Weil sie hoffnungslos und verzweifelt ist.«
»Ach so – hoffnungslos und verzweifelt.« Sie zieht an ihrer Zigarette, atmet tief ein.
»Kannst du dich noch an die Zeit erinnern, Vera, als
wir
hoffnungslos und verzweifelt waren?«
Das Wohnheim. Das Flüchtlingslager. Das schmale Bett, in dem wir beide schlafen mussten, und die Toilette hinten im Hof mit
dem in Fetzen gerissenen Zeitungspapier.
»Aber wie verzweifelt muss jemand sein, dass er kriminell wird? Oder sich prostituiert?«
»Frauen sind für ihre Kinder schon immer zu allem fähig gewesen. Ich würde für Anna dasselbe tun. Ich bin mir ganz sicher.
Würdest du das für Alice und Lexi etwa nicht tun? Glaubst du nicht, Mutter hätte es für uns auch getan? Wenn wir keine Hoffnung
mehr gehabt hätten? Wenn es keine andere Möglichkeit gegeben hätte?«
»Du weißt ja nicht, was du redest, Nadia.«
In den frühen Morgenstunden liege ich wach im Bett, weil mir der Mann aus dem Kongo im Kopf herumspukt.
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