Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
einiges für Vaters These, dass Nietzsches Genie von dessen geistig unter ihm
stehenden Mitmenschen nicht erkannt worden sei. Dann will er wissen, ob Vater sich verfolgt fühle. »Aber nein«, erklärt dieser,
»nur von ihr.« Dabei deutet er auf die Tür, hinter der Valentina lauert. (»Er wollte herausfinden, ob ich paranoid bin, aber
auf diesen Trick bin ich natürlich nicht hereingefallen.«)
Valentina ist eingeschnappt, weil sie an der Konsultation nicht teilnehmen darf. Immerhin war sie ja diejenige, die die Behörden
als Erste auf Vaters Geisteskrankheit aufmerksam |177| gemacht hat. Noch beleidigter ist sie, als Vater strahlend aus dem Sprechzimmer kommt.
»Sehr kluger Doktor. Er sagt, ich bin nicht verrückt. Sondern du bist verrückt!«
Da stürmt sie ins Sprechzimmer und beschimpft den Psychiater in mehreren Sprachen, bis dieser nach den Pförtnern rufen lässt,
die Valentina hinausbegleiten sollen. Sie stolziert hinaus, nicht ohne ihm über die Schulter noch einige beleidigende Bemerkungen
über Inder an den Kopf zu werfen.
»Okay, Papa, der Besuch bei dem Psychiater war also ein Erfolg. Aber was ist mit deinem Kopf passiert? Wo hast du denn diese
Wunde her?«
»Ach, das war Valentina. Nachdem es ihr nicht gelungen ist, mich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, hat sie versucht,
mich umzubringen.«
Er beschreibt die Szene, die sich abspielte, als sie aus dem säulengeschmückten Krankenhauseingang treten: Sie schreien einander
noch immer an. Sie schubst ihn. Er verliert das Gleichgewicht, fällt die Steintreppe hinunter und schlägt sich den Kopf auf.
Er blutet.
»Komm«, sagt Valentina, »du dummer alter Mensch, du Hinfaller. Schnell schnell einsteigen in Auto. Fahren wir nach Hause.«
Ein kleiner Menschenauflauf hat sich um sie herum gebildet. »Nein«, schreit Vater und schlägt wild um sich, »geh weg, du Mörderin.
Ich werde nicht nach Hause fahren mit dir!« Seine Brille ist zu Boden gefallen, eines der Gläser ist zerbrochen.
Eine Krankenschwester tritt aus dem Kreis der Umstehenden auf ihn zu und begutachtet seine Kopfwunde, die zwar nicht tief
ist, aber stark blutet. Die Schwester nimmt Vater am Arm.
|178| »Kommen Sie lieber mit zur Unfallstation, die sollten sich das dort mal ansehen.«
Valentina hält ihn am anderen Arm fest.
»Nein, nein! Er mein Mann! Er ganz in Ordnung. Er mitkommen in Auto nach Hause.«
Die eine zerrt ihn hierhin, die andere dorthin, Vater in der Mitte protestiert lautstark: »Mörderin! Mörderin!« Die Zuschauermenge
wird immer größer. Schließlich ruft die Schwester die Sicherheitsleute des Krankenhauses zu Hilfe, und die bringen ihn zur
Notaufnahme, wo seine Wunde verbunden wird, während Valentina immer noch stur seinen Arm festhält. Sie ist nicht dazu zu bewegen,
ihn loszulassen.
Doch Vater weigert sich, das Krankenhaus mit ihr zu verlassen. »Sie will mich umbringen!«, erklärt er jedem, der in Hörweite
kommt. Schließlich wird ein Sozialarbeiter gerufen, der meinen Vater mit seinem dramatisch dicken Kopfverband für eine Nacht
in einer sozialen Einrichtung unterbringt. Am nächsten Morgen fährt er unter Polizeischutz nach Hause.
Valentina, nun ganz Lächeln und Zärtlichkeit, erwartet ihn schon.
»Komm,
golubtschik
, mein Täubchen, mein Schatz.« Sie tätschelt ihm die Wange. »Wir jetzt nicht mehr streiten.«
Die Polizisten sind entzückt. Sie nehmen die Einladung zu einer Tasse Tee gern an und sitzen viel länger in der Küche als
nötig, um lang und breit darüber zu diskutieren, wie ungeschickt und verletzlich alte Leute doch sind und wie wichtig es ist,
dass jemand sich richtig um sie kümmert und auf sie aufpasst. Sie erzählen von alten Menschen, die an der eigenen Haustür
von Kriminellen hereingelegt oder auf der Straße von Dieben überfallen wurden. Nicht alle Alten haben ja das Glück, von einer
liebenden Ehefrau umsorgt zu werden. Valentina kann über solche Rücksichtslosigkeit und Brutalität nur entsetzt den Kopf schütteln.
|179| Es habe ihr wohl wirklich leid getan, sagt Vater, denn nachdem die Polizisten wieder weggefahren waren, sei sie keineswegs
wütend über ihn hergefallen, sondern habe nur seine Hand genommen und sie gestreichelt und auf ihre Brust gelegt und nur ein
ganz klein wenig mit ihm gescholten, weil er ihr nicht vertraut habe und weil nun dieser Schatten zwischen ihnen stehe. Und
sie hat ihn noch nicht einmal beschimpft, weil er ihren Karton mit
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