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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Surren. Es ist nicht die Francis Barnett, es ist der kleine Fotokopierer.
    Sein Körper versteift sich. Er kann nichts dagegen tun, er muss beide Augen öffnen und starrt geradewegs in Valentinas sirupbraune,
     schwarz umrandete Kleopatra-Augen.
    »Ha«, sagt sie, »schau, Margaritka, die Leiche bewegt sich.«
    Mrs.   Zatshuk grunzt etwas und legt im Kopierer Papier nach. Surrend läuft er wieder an.
    Valentina beugt sich zu Vater hinab, so dass ihr Gesicht ganz dicht vor seinem ist, und sagt: »Du denken, du so sehr gescheit.
     Du bald tot, gescheiter Mr.   Ingenieur.«
    Vater gibt einen Schrei von sich und etwas, was er später als »Rückwärtsentladung« bezeichnet.
    »Du jetzt schon aussehen wie Leiche – bald du wirst sein. Du Kadaver von Hund, wandelnder Skelett.«
    Sie lehnt über ihm und drückt ihn auf dem Sessel fest, indem sie sich links und rechts von seinem Kopf mit den Händen abstützt.
     Währenddessen kopiert Mrs.   Zatshuk seelenruhig den Briefwechsel mit Ms. Carter. Als sie damit fertig ist, rafft sie die Papiere zusammen, zieht das Kopiererkabel
     aus der Steckdose und verstaut alles in einer großen Tesco-Tragetasche.
    »Komm, Valenka. Wir haben alles, was wir brauchen. Komm weg von diesem stinkenden Leichnam.«
    Auf der Schwelle dreht Valentina sich noch einmal zu ihm um und wirft ihm eine Kusshand zu.
    »Du lebendig Toter. Du von Friedhof entflohen.«

|261| 23.
Dem Friedhof entflohen
    Vielleicht wusste Valentina davon, vielleicht traf sie auch nur zufällig ins Schwarze, aber mein Vater ist tatsächlich einmal
     dem Friedhof entflohen.
    Es war im Sommer 1941, als die deutschen Truppen in die Ukraine einmarschierten und die Rote Armee sich nach Osten zurückzog
     und hinter sich die Brücken zerstörte und die Felder abbrannte. Vater war mit seinem Regiment in Kiew. Er war ein widerwilliger
     Soldat. Man hatte ihm ein Bajonett in die Hand gedrückt und ihm gesagt, er müsse nun für sein Vaterland kämpfen, aber er wollte
     nicht kämpfen, nicht fürs Vaterland, nicht für den Sowjetstaat und auch nicht für irgendjemanden sonst. Er wollte mit Rechenschieber
     und vielen leeren Blättern an seinem Schreibtisch sitzen und über der Schleppliftgleichung brüten. Aber dafür war jetzt keine
     Zeit, für nichts war jetzt mehr Zeit außer für zustechen und rennen, schießen und rennen, sich verstecken und rennen und rennen
     und rennen. Nach Osten, die ganze Armee rannte ostwärts, durch die unter einem strahlend blauen Himmel liegenden erntereifen
     gelben Weizenfelder von Poltawa, immer weiter nach Osten bis nach Stalingrad, wo sie sich endlich wieder neu formierte. Doch
     die Flagge, der sie folgten, war nicht mehr gelb und blau. Sie war rot mit gelb.
    Vielleicht war das ja der Grund, vielleicht hatte er aber |262| auch einfach nur genug von all dem, jedenfalls war mein Vater nicht mit von der Partie. Er hatte sich von seinem Regiment
     fortgestohlen und einen Platz gefunden, wo er sich verstecken konnte. In einem ruhigen grünen Stadtviertel von Kiew hatte
     er sich im alten jüdischen Friedhof in eine kaputte Grabstelle geflüchtet, die schweren Steine hinter sich wieder zurechtgerückt
     und sich dort, sozusagen auf Tuchfühlung mit den Toten, verborgen. Mitunter drangen die klagenden Stimmen jüdischer Hinterbliebener
     zu ihm ins Dunkle hinunter, in diese kühle feuchte Stille, in der er fast einen Monat lang ausharrte. Anfangs lebte er von
     dem Vorrat an Nahrungsmitteln, den er mitgebracht hatte, und als der zur Neige ging, ernährte er sich von Maden, Schlangen
     und Fröschen. Er trank von einem Wasserrinnsal, das bei Regen in die Grabstätte sickerte, gewöhnte seine Augen an die Dunkelheit
     und war sich seiner direkten Nähe zum Tod ständig bewusst.
    Allerdings war es nicht vollkommen dunkel in seiner Höhle, denn durch einen Spalt zwischen den Steinen fiel zu einer bestimmten
     Tageszeit Sonnenlicht zu ihm herein, und wenn er die Augen an diesen Spalt presste, konnte er nach draußen sehen. Dort sah
     er Grabsteine, die halb von rosaroten Rosen überwuchert waren, und hinter ihnen einen Kirschbaum, an dem Kirschen reiften.
     Dieser Baum wurde ihm zur Besessenheit. Tagaus, tagein, während er seine dunkle Höhle nach Larven und Maden durchforschte,
     die er, um sie ein wenig genießbarer zu machen, in Blätter oder Gräser wickelte, starrte er immer wieder zu ihm hinüber.
    Und eines Tages – vielmehr eines Abends – hielt er es nicht mehr aus. Als es dunkel wurde, kroch er

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