Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
aus seinem Versteck und
kletterte auf den Baum, pflückte die Kirschen und steckte sie sich händeweise in den Mund. Mehr und immer mehr, so dass ihm
der Saft übers Kinn lief und seine Kleidung bald voller roter Kirschsaftflecken war, die aussahen |263| wie Blut. Die Kerne spuckte er in alle Himmelsrichtungen. Er konnte nicht genug bekommen. Schließlich packte er sich noch
seine Taschen und seine Mütze mit Kirschen voll und stahl sich wieder zurück in seine unterirdische Höhle.
Doch irgendjemand hatte ihn beobachtet. Irgendjemand zeigte ihn an. Bei Tagesanbruch erschienen Soldaten, die ihn herauszogen
und verhafteten, weil sie ihn für einen Spion hielten. Als sie ihn in den Lastwagen zerrten, brachten die Kirschen in seinem
Bauch und die Angst vor Gefangenschaft seine Gedärme dermaßen in Aufruhr, dass er sich schmachvoll selbst beschmutzte.
Sie fuhren mit ihm zu einer alten Nervenklinik am Stadtrand, wo sie ihre Kommandozentrale eingerichtet hatten, sperrten ihn
in einen leeren Raum mit vergitterten Fenstern und ließen ihn in seinem Gestank sitzen und auf sein Verhör warten. Mein Vater
war kein tapferer Mann, kein Held. Er wusste, wie brutal die Deutschen ihre ukrainischen Gefangenen behandelten. Was hätte
ich in einer solchen Situation getan? Vater schlug mit der Faust eine Fensterscheibe ein, nahm eine Glasscherbe und schnitt
sich die Kehle auf.
Doch die Deutschen wollten ihn nicht so schnell für sich verloren geben. Sie fanden einen Arzt, einen alten ukrainischen Psychiater,
der in der Klinik zurückgeblieben war, um sich um die Kranken zu kümmern. Dieser hatte schon seit seiner Zeit als Medizinstudent
keine Wunde mehr genäht, und als er nun Vaters Schnittwunde mit grobem Nähfaden zusammenflickte, wurde daraus eine dicke gezackte
Narbe, die Vater sein Leben lang beim Essen Husten verursachte. Aber er rettete ihm das Leben. Und er erzählte den Deutschen,
dass Vaters Kehlkopf zu großen Schaden gelitten hätte, um jemals wieder zu funktionieren, dass der Mann niemals in der Lage
sein würde, bei einem Verhör |264| auszusagen, und dass er außerdem ohnehin kein Spion sei, sondern ein armer Irrer, ein ehemaliger Patient, der schon früher
versucht habe, sich das Leben zu nehmen. So kam es, dass die Deutschen Vater laufen ließen.
Er blieb in der Klinik bei dem alten Psychiater, mit dem er Schach spielte und über Philosophie und Naturwissenschaften diskutierte.
Als der Sommer sich seinem Ende zuneigte, zogen auch die Deutschen weiter, hinter der Roten Armee her nach Osten. Sobald Vater
die Lage für sicher hielt, machte er sich davon. Er wollte nach Westen, nach Dashev zu seiner Familie.
Aber Mutter und Vera waren bereits fort, als er kam. Zwei Wochen zuvor hatten die Deutschen das Dorf eingenommen, hatten alle
einigermaßen arbeitsfähigen jungen Leute in Eisenbahnzüge verladen und zur Arbeit in Munitionsfabriken nach Deutschland deportiert.
Ostarbeiter nannten sie sie. Vera mit ihren vier Jahren hatte im Dorf zurückbleiben sollen, doch Mutter veranstaltete einen
solchen Aufruhr, dass sie sie schließlich mitnehmen durfte. Vater blieb in Dashev, bis er wieder bei Kräften war. Dann setzte
er alle Hebel in Bewegung, um auch in einen Transportzug zu kommen, und folgte ihnen nach Westen.
»Nein«, sagt Vera, »so war es nicht. Es waren Pflaumen, keine Kirschen. Und es war der NKWD, der ihn aufstöberte und gefangen
nahm, nicht die Deutschen. Die Deutschen kamen erst später. Und als er nach Dashev zurückkam, waren wir noch da. Ich weiß
noch, wie er kam, mit dieser fürchterlichen Narbe an der Kehle. Baba Nadia hat ihn gepflegt. Er konnte nichts essen außer
Suppe.«
»Aber er hat es mir doch selbst erzählt …«
»Aber es stimmt nicht. Er ist als Erster von uns in den Westen gefahren, er war es, der auf einen Transport nach Deutschland
kam. Als er ihnen gesagt hat, dass er Ingenieur |265| ist, haben sie ihm Arbeit gegeben. Später hat er nach Mutter und mir geschickt.«
Das ist die Geschichte, wie meine Familie die Ukraine verließ – zwei verschiedene Geschichten, die eine erzählt von meiner
Mutter, die andere von meinem Vater.
»Er war also ein Wirtschaftsflüchtling, kein Asylbewerber?«
»Nadia, bitte. Was hat das denn jetzt noch für eine Bedeutung? Wir sollten unsere Kräfte auf die Scheidung konzentrieren und
nicht ständig in der Vergangenheit herumstochern. Es gibt da nichts zu erzählen und nichts daraus zu lernen.
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