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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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und alle unterhalten sich lautstark
     quer durch den Raum. Es scheint sich um Stammpublikum zu handeln, denn sie nennen den Barkeeper beim Vornamen und lästern
     laut über seinen Glatzen-Haarschnitt. Passen Valentina und Stanislav hierher? Im hinteren Teil des Raums sehe ich einen jungen
     Mann Gläser von den Tischen abräumen. Er hat langes lockiges Haar und trägt einen scheußlichen roten Kunstfaserpullover. Als
     er bei meinem Tisch vorbeikommt, schaut er mich an, und unsere Blicke treffen sich. Ich lächle ihn freundlich an.
    »Hallo, Stanislav! Schön, dich zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest. Wie geht’s deiner Mama? Arbeitet sie
     auch hier?«
    Stanislav antwortet nicht. Er nimmt mein Glas, das noch halb voll ist, und verschwindet damit in dem Raum hinter der Bar.
     Er taucht nicht wieder auf. Aber nach einer Weile kommt der Barkeeper zu mir und sagt, ich solle jetzt besser gehen.
    |252| »Warum? Ich mache doch nichts. Ich sitze nur einfach hier und trinke etwas.«
    »Zufällig haben Sie schon ausgetrunken.«
    »Ich hole mir noch mal was.«
    »Hören Sie, Sie sollen verschwinden. Haben Sie verstanden?«
    »Pubs sind im Allgemeinen öffentlich und nicht für geschlossene Gesellschaften«, argumentiere ich unter Aufbietung all meiner
     Mittelschichtswürde.
    »Verschwinden Sie, sage ich.«
    Er beugt sich so nah zu mir, dass ich seinen Bieratem ins Gesicht bekomme. Sein Glatzkopf sieht plötzlich ganz und gar nicht
     mehr witzig aus.
    »Gut. Dann streiche ich dieses Etablissement eben von der Liste meiner Lieblingslokale.«
    Es dämmert bereits, als ich mich draußen wiederfinde, aber noch ist die Luft warm von der Nachmittagssonne. Seit gut zwei
     Wochen hat es nicht mehr geregnet. Im Hof hinter der Kneipe riecht es nach Bier und Urin. Überrascht stelle ich fest, dass
     meine Hände zittern, als ich meine Wagenschlüssel aus der Tasche nehme. Trotzdem will ich noch nicht ganz aufgeben. Ich schlüpfe
     um die Hausecke und werfe einen Blick durch das offene Küchenfenster. Von Stanislav oder Valentina keine Spur. Aber von drinnen
     aus der Kneipe höre ich einen der Gäste brüllen: »He, Ed, was war das denn gerade?« Und Ed antwortet: »Ach, bloß eine alte
     Kuh, die meine Leute nervt.«
    Ich hocke mich auf eines der Fässer, weil ich merke, wie müde ich mit einem Mal bin. Die Begegnungen dieses Tages sind mir
     aufs Gemüt geschlagen. Auf so viel Aggressivität kann ich wirklich verzichten. Ich steige in mein Auto und fahre, ohne noch
     einmal bei Vater vorbeizuschauen, direkt nach Cambridge zurück, nach Hause zu Mike.
    |253| Vera weiß sofort, was Sache ist.
    »Sie arbeiten schwarz. Deshalb will er nicht, dass du Fragen stellst. Und außerdem ist Stanislav vielleicht auch noch zu jung,
     um in einer Kneipe arbeiten zu dürfen.«
    (Ach, was für einen Instinkt hast du doch, große Schwester, wenn es darum geht, Schmutziges und Ehrenrühriges ans Licht zu
     befördern!)
    »Und was ist mit der Frau in Eric Pikes Haus?«
    »Offensichtlich hatte Pikes Frau auch eine Affäre, als er seine Affäre mit Valentina hatte.«
    »Wieso weißt du eigentlich immer solche Sachen, Vera?«
    »Wieso weißt du sie nicht, Nadia?«

|254| 22.
Musterbürger
    Als meine Eltern 1946 nach England kamen, wurden sie echte Musterbürger. Nie – nicht ein einziges Mal – haben sie gegen ein
     Gesetz verstoßen. Sie hatten viel zu viel Angst. Ein Formular auszufüllen, das unter Umständen mehrdeutig auszulegen war,
     bereitete ihnen Höllenqualen: Was, wenn das, was sie eintrugen, nicht die richtige Antwort war? Sie scheuten sich, Unterstützung
     zu beantragen: Was, wenn jemand kam, um ihr Haus zu inspizieren? Sie hatten Angst, sich Reisepässe für eine Auslandsreise
     ausstellen zu lassen: Was, wenn man sie dann nicht wieder ins Land ließ? Wer für die Behörden wie auch immer auffällig wurde,
     wurde möglicherweise in den Zug gesetzt und auf eine lange Reise ohne Wiederkehr geschickt.
    Leicht vorstellbar, dass Vater in Panik gerät, als ihm durch die Post eine Vorladung zum Gericht zugestellt wird. Es geht
     um nicht bezahlte Kraftfahrzeugsteuer. Das Schrottauto ist in einer Nebenstraße abgestellt und dort ohne aktuelle Steuermarke
     aufgefunden worden. Und Vater ist als Halter des Fahrzeugs registriert.
    »Dank Valentina bin ich jetzt zum ersten Mal in meinem Leben kriminell geworden.«
    »Das ist nicht so schlimm, Papa. Ich bin sicher, es handelt sich bloß um ein Missverständnis.«
    »Von wegen –

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