Kurzes Buch ueber das Sterben
ging ich an der Hand meiner Mutter spazieren. Sie hatte Angst, dass ich verlorengehen, dass die Zigeuner mich holen, dass diese Stadt aus zweistöckigen Häusern an der Hauptstraße und einem Gewirr von Sträßchen dahinter mich verschlucken könnte. Die schattigen, stillen Gassen sahen aus wie die Peripherie einer Provinzstadt. Daher hatten sie übrigens auch ihre Namen: Biłgorajska, Stoczkowska, Łukowska, Lubartowska, Nasielska, Pułtuska, Serocka. Die Migranten der Nachkriegszeit, das Kanonenfutter der Industrialisierung und des Kommunismus, fühlten sich dort wie zu Hause. Als wären sie nie aus dem wirklichen Biłgoraj, dem echten Lubartów, dem tatsächlichen Serock weggefahren, als hätten sie das Herz und den Kern des Landes nie verlassen. Man musste nur von der Grochowska abbiegen, und es war wie in Sokołów. Aber Mama hielt mich an der Hand, damit ich nicht verlorenging. Im Herbst kamen Wagen, vor die schwere Pferde gespannt waren. Die Hufeisen schlugen Funken auf dem Kopfsteinpflaster. Man konnte Kartoffeln und Kohle kaufen. Ich war fünf Jahre alt und einsam. Ich horchte auf das Hundegebell in den Gärten. Im Winter roch die Luft nach Kohlenrauch. Anfrostigen Tagen war dieser Geruch berauschend. Wie der Gestank der Zersetzung im Sommer.
Elf Jahre später, als ich wieder dort war, gingen wir auf den hohen Bahndamm in Olszynka. Wir schauten nach Westen, auf den schwarzen Scherenschnitt der Stadt und die rote Sonne. Nach Osten, auf die grauen, vom Regen glänzenden Rücken der Züge. Manche der Waggons sollten angeblich ganz Asien bezwingen und erst an der pazifischen Küste anhalten. Wir standen da und betrachteten bald die Stadt, die eine Art Westen für uns war, bald den herbstlichen Nebel, hinter dem irgendwo bei Mińsk Mazowiecki die Steppe begann. Wir legten Hölzchen nach im alten Kessel und fühlten uns wie Schiffbrüchige auf einer unbewohnten Insel. Angst hatten wir nicht, wir empfanden nur Freude; fern der Welt konnten wir uns unseren Phantasien hingeben und uns nach ihr sehnen. Denn Olszynka und Grochów und dieses ganze Land lagen irgendwo dazwischen. Weder hier noch dort. Ständig erinnerte es an etwas. Es weckte Sehnsucht, die ins Herz eindrang wie eine feine Nadel, Linderung brachte und betäubte. Laudanum.
Am ersten Weihnachtsfeiertag vor jenem Ostersamstag waren wir nach Budapest gefahren. Schnee lag damals nicht, es war nur neblig. Auf den Pfosten der Umzäunungen an der Autobahn saßen Raubvögel und warteten auf Beute. Ein kalter Wind wehte. Auf einem leeren Parkplatz zog ich lange Unterhosen an, weil ich mir sagte, in der Stadt würde das schwierig werden. Wir erreichten Budapest gegen elf. Es war leer und grau. Kaum Autos, kaum Menschen. Wir ließen das Auto unweit vom Heldenplatz in der Dózsa-György-Straße stehen und gingen Richtung Ostbahnhof. Ich wollte ihm den Kerepesi-Friedhof zeigen, der einer Stadt in der Stadt glich, mit Grabmälern wie Häuser und Wegen wie Straßen. Sogar Autos durften hier fahren, und an diesem Weihnachtsfeiertag war hier mehr Verkehr als in Budapest. Die Leute räumten auf, stellten Blumen hin, in den Autos hatten sie Eimer und Kehrbesen. Wer nicht saubermachte, ging spazieren. Ganze Familien waren unterwegs. Wir gingen weiter in die Stadt hinein. Sicher sind wir durch die Rákóczi gegangen, dann die Károly und die Andrássy, um schließlich im Művész einen Kaffee zu trinken. Oder sind wir von der Rákóczi auf die Erzsébet abgebogen, und es war dort, am Blaha-Platz, wo die Obdachlosen eine Art Kundgebung abhielten? Ich weiß nicht mehr. Wir waren allein, also kann ich mir die Orte und Ereignisse ausdenken. Jedenfalls waren wir gefahren, um einfach durch die Stadt zu streifen, solange wir Kraft dazu hatten. Die Stadt war groß, dunkel und kalt. Die oberen Stockwerke der Häuser verschwanden im Nebel. Außer uns überquerten nur ein paar japanische Touristen die Kettenbrücke. Dick eingemummt, die Kapuzen auf dem Kopf, die Rucksäcke auf dem Rücken, sahen sie aus wie verlorene Eskimos. Und wie sahen wir aus? Kurze Jacken, irgendwelche Latschen, als wollten wir Zigaretten holen gehen. Wie vor zwanzig Jahren auf dem Weg zum Kiosk Ecke Garwolińska und Szaserów und dann über die unbebaute Fläche Richtung Prochowa, Paca und Nizinna. Fast im Laufschritt gingen wir über die Kettenbrücke, um nicht zu erfrieren. Ein eisiger Wind wehte. Wir kehrten um. Wie durchgefrorene Schatten. Fast wie früher, wenn wir lange durch die Nacht streiften, mit
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