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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Stasiuk
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als gewöhnlich. Aber nur, wenn ich irgendwo durch die Landschaft fuhr. Auf Reisen von fünf, sechs Tagen. Durch eine fremde Gegend, durch Schlesien, Großpolen, wo wir nie zusammen gewesen waren. Ich erzählte ihm, was ich sah, sagte ihm, es sei dreckig, der Asphalt sei aufgeplatzt, und alle führen wie die Idioten. Ich versuchte ihn aufzuheitern. Aber immer nur unterwegs. Damit es nicht passieren konnte, dass wir beide dasaßen, an den zwei Enden der Verbindung, unbewegt, nur auf unsere Gedanken angewiesen, auf dieses Vakuum im Kopf, im Herzen, in der Seele, auf dessen Grund das Unaussprechliche lauerte. Ich wollte diese Angst nicht spüren. Also schwallte ich in die dröhnende Leere der Telefonzelle. Dass ich fahre, dass man ja immer noch fahren kann, dass die Kilometer vergehen, dass grauer Schnee fällt und es glatt wird irgendwo vor Lubin; spätherbstlicher Siff, und nach fünf Stunden Fahrt in die ewigeDämmerung wird man ganz einfach blind. Ich redete, damit er sich diese Fahrt vorstellen konnte, dieses Sich-Verlagern, das Gleiten des Raums auf der Haut, das wir so liebten, ohne das wir nicht leben konnten. Kinder aus dem armen Grochów, Söhne dieses engen Landes, aus dem es keinen Ausweg, keine Flucht gab, denn auf der einen Seite war der Iwan, auf der anderen die Deutschen, und wir kreisten wie Falter um das Licht, das unsere Köpfe, unsere Herzen und Seelen ausströmten. Wir fuhren einfach im Kreis und erklärten damit den Iwan und die Deutschen und das arme Grochów für ungültig, wir irrten im goldenen Nebel, verfangen im leuchtenden Garn unseres Geistes. Dafür schäme ich mich keineswegs. Das wollte ich ihm sagen, wenn ich durch den wirbelnden Schnee fuhr, durch das schwarze Licht, durch den schmutzigen Glanz des Landes, das wieder frei war. So redete ich ohne Ende, um ihn zu zerstreuen oder zu unterhalten. Vor allem aber, um ihn nicht zu Wort kommen zu lassen; weil ich ein Feigling bin.
    Am Ostersonntag sahen wir vom Fenster aus, wie Sporttaucher in schwarzen Spezialanzügenvom Kai aus ins Wasser gingen. Drei oder vier Taucher, um zehn Uhr morgens. Es war grau. Wir lagen lange in den Betten. Hatten keine Lust zu reden. Wir hatten einen Kater vom Weißwein im Delphin und vom Rotwein hinterher. Irgendwie raffte ich mich auf und ging los. Ein kaltes, feuchtes Ostern mit einem Beigeschmack von Metall. Eigentlich hätten wir nicht so weit zu fahren brauchen. Das hätten wir auch an Ort und Stelle haben können. Im schlimmsten Fall ohne Sporttaucher. Ich streunte herum. Mir kam weder die Auferstehung des Leibes noch die Auferweckung von den Toten in den Sinn. Ich machte mir nur Sorgen, dass wir nicht in eine Drei-Tage-Sauferei verfielen, denn am nächsten Tag mussten wir wieder tausend Kilometer zurückfahren. Wir waren nicht mehr die Alten. Ein oder anderthalb Jahre zuvor waren wir aus Ungarn zurückgefahren. Die Nacht brach herein, und ich sollte das Steuer übernehmen, die restliche Strecke bis nach Hause. Wir hielten an einer Tankstelle. Er wollte sich Palinka kaufen. Nach ein paar Minuten kam er zurück und fragte, ob ich ihm meine Lesebrille leihen könne. »Ich kann im Regal die Ölflaschen nicht von den Schnapsflaschen unterscheiden«,sagte er. Wir waren wirklich nicht mehr die Alten, ewig suchten wir in den Taschen dieses und jenes, das Portemonnaie, die Schlüssel, das Handy und eben die Brille. Tasten, Abklopfen, Resignation. Alles wurde zu viel, und wir wurden gleichsam weniger. Aber zu diesen scheinbar ziellosen Reisen brachen wir nach wie vor auf, immer wieder, durch drei, vier Länder. Auf der Suche nach den Schatten, auf der Suche nach der Vergangenheit oder, um die Gegenwart oder die Zukunft herauszufordern. Oder um uns zu unterhalten ohne die Notwendigkeit, einander gegenüberzusitzen, einander anzusehen, ohne die Momente der Stille, in der man den eigenen Atem hört. Zwei-, dreimal im Jahr liefen die Kilometer, die Landschaft, die Platten im CD-Player. Jetzt wieder, weitere tausend Kilometer. Aber schweigend, denn wir hatten keine Kraft und keine Lust zu reden.
    Als ich nach einer oder zwei Stunden zurückkam, wollte er sich gerade zu einem Rundgang aufmachen. »Dann geh ich mal«, sagte er. Er tat es ungern, mit schweren Schritten. Sein Gesicht war grau in diesem Osterlicht und auch vom Wein, den er langsam, aber stetig trank und der ihn nicht für einen Augenblick anregte.Eher verursachte er ihm Schmerzen, setzte sich in den Adern ab und verbrannte ihm die Nerven. O Gott, als hätten

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