Kurzes Buch ueber das Sterben
einem Flämmchen Alkohol im Herzen. Vielleicht war die Zeit gar nicht vergangen. Vielleicht hatten sich nur die Umstände geändert. Dinge und Ereignisse sind an uns vorbeigezogen, haben uns angerempelt, herumgestupst, mitgerissen, aber wir sind immer dieselben geblieben. Ist es vielleicht das? Wir kehrten also um, gingen wieder in die Andrássy, nach links, über den Oktogon und dann die ganze Zeit geradeaus bis zum Auto, wo es endlich zu wehen aufhörte. Wie ist das also? Sterben wir, kaum verändert? Kaum angebrochen? Weil wir keinen Unterschied zwischen uns damals und uns jetzt finden können? Und wenn der Tod kommt, wissen wir nicht, wie wir uns verhalten sollen? Weil er unsere Tage und unser Schicksal nicht mit uns geteilt hat? Weil er sich ins gemachte Nest setzen will.
Hinter Miskolc winkte jemand im Dunkeln, wir nahmen ihn mit. Es war ein Junge, er wirkte etwas verunsichert, als wir sagten, wir seien keine Ungarn. Aber wir kannten den Ortsnamen, den er genannt hatte, und wiederholten ihn, um den Jungen zu beruhigen. Damit er sich nicht so einsam fühlte, suchte ich Radio Bartók oder Radio Petőfi, und er konnte eine halbe Stunde lang seine Muttersprache hören. Geduckt saß er hinten. Es kam mir vor, als hätte er das dunkle Gesicht eines Zigeuners. Er rochnach Zigaretten. Vor Miskolc hatte ich mit meinem Begleiter das Steuer getauscht, jetzt beobachtete ich aus dem Augenwinkel, wie er fuhr. Leicht gebeugt, als spürte er das Rasen des Raums auf der Haut, als wollte er möglichst geringen Widerstand leisten. Wenn er überholte oder aus einer Kurve heraus beschleunigte, beugte er sich noch mehr vor, die rechte Hand an der Gangschaltung, leicht zur Seite gedreht, die linke Schulter etwas nach vorn geschoben, dem Wind ausgesetzt. Als ich mit Autofahren anfing, ahmte ich ihn unbewusst nach. Denn er fuhr schon immer, seit ich denken konnte. 1976/77 schaute ich aus dem Fenster des zweiten Stocks der Schule zu, wie er auf der Probebahn der Fabrik fuhr. Die Bahn war aus Beton, oval und einige Kilometer lang. Die Kurven hatten ungewöhnliche Winkel, man ging hinein, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Das war sein Job. Er setzte sich ins Auto und fuhr. Er prüfte den Fiat 125p. Die Wagen standen an der Stalingradzka. Hunderte von Autos unter freiem Himmel. Wenn es regnete, glänzten ihre Dächer wie bunte Kacheln. Ich fragte ihn, um wie viel Uhr er fahre und mit was für einem Auto. Wir verabredeten zum Beispiel: zwischen eins undzwei mit einem roten. Ich ging ins zweite Stockwerk und schaute zu, wie er eintönig seine Ellipsen drehte. Drei, vier Minuten für eine Runde. Manchmal fuhren ein paar Autos gleichzeitig. Sie jagten sich, obwohl das nicht erlaubt war. Meist war es am Nachmittag, während der zweiten Schicht, wenn ich in der Werkstatt arbeitete. Ich verdrückte mich dann aus der Halle mit den Werkzeugmaschinen und ging nach oben, um zu gucken. Jenseits des Flusses schimmerten weiß die Türme des Kamedulenklosters. Die Brücke gab es noch nicht, der Blick war frei und schön. Ich öffnete das Fenster, um die Motoren zu hören. Ein rotes Auto, ein gelbes, ein graues. Sie tauchten auf und verschwanden wieder. Vom Fenster aus war nur ein Teil der Bahn zu sehen und das Ende einer Kurve. Ich beneidete die Fahrer. Auf gerader Strecke fuhren sie hundertzwanzig, hundertdreißig. In den Kurven fast genauso schnell, denn die Schräge der Bahn glich die Fliehkraft aus, die sie in die Sitze drückte. Darum habe ich ihn 1976/77 beneidet. Mit Schmiere versaut, getränkt mit dem Gestank von heißem Öl und Metall, stand ich da in meinem kurzem Drillich und sah ihn dahinjagen wie auf einem amerikanischen Highway,und wenn es in der Dämmerung regnete, zogen die Rücklichter eine rote Fata Morgana durch die Luft. Nach ein paar Minuten musste ich zurück zu der öden Quälerei an den Drechsel-, Fräs- und Schleifmaschinen. Meistens waren es alte sowjetische. Alle hellgrün angestrichen. Wir mussten schwarze Baskenmützen aus Filz und schwere Schuhe tragen. Ich starb fast vor Langeweile. Die Fabrik wollte sich von unseren Körpern nähren. Von unserem Fleisch. In einem oder zwei Jahren sollten wir wie unsere Väter kurz vor fünf aufstehen und in der eisigen Dunkelheit zu den gefräßigen Toren fahren. Die spiralförmig gedrehten Späne unter den Drechselmessern, scharf wie Rasierklingen, schillerten in allen Regenbogenfarben. Öl. Metallgestank. Der scharfe Geruch der Funken unter den Korundscheiben. Kurz vor fünf aufstehen,
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