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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Stasiuk
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kalt. Aber wir fuhren dorthin, um unter Menschen zu sein. Unter diesen Typen mit den grauen Jacken und Mänteln. Zu ihnen zog es uns. Wahrscheinlich fanden wir, dass sie das wirkliche Leben lebten, wenngleich wir das nie aussprachen. Ein Leben, das wir um nichts in der Welt führen wollten, von dem wir uns aber auch nicht ganz lossagen konnten. Wir waren Abtrünnige. Und kehrten immer wieder zu unseren Vätern zurück. Neben den Palast des Proletariats, dessen Schatten alles ringsum bedeckte wie schwarzes Eis. Nicht nur über der Szaserów hing Dunkelheit. Sie erfüllte die ganze Stadt. Überall halblebiges gelbliches oder graues Licht. Wir leuchteten uns gegenseitig. Im 102-er, im Rundbau, in der 21 nach Żerań, in der Drei nach Gocławek, wenn wirsehen wollten, wie die Stadt verklingt, demütig und einstöckig wird und den Horizont freigibt. Dann bleibt sie zurück, verschwindet, und es erscheint zum Beispiel der Tag – von dem ich gern wüsste, wo er letztendlich geblieben ist –, als wir im letzten Waggon fuhren, an der offenen Tür, und der Zigarettenrauch sich mit dem Geruch der erhitzten Schwellen mischte. Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass du sterben wirst? Oder dass ich sterben werde? Dass wir irgendwann zusehen werden, wie sie den anderen vergraben oder in den Ofen schieben? Dass wir nur noch das für den anderen werden tun können? Nur zusehen? Zagórz, Morochów, Szczawne oder Kulaszne, Rzepedź, Komańcza. Hinter Rzepedź überqueren die Gleise die Osława. Im Schatten des Steilhangs erhebt sich eine genietete Stahlbrücke. Dieser Ort kehrt aus irgendwelchen Gründen in meinen Träumen wieder. Ich weiß nicht, warum. Es ist einfach so. Als wir in jenem Sommer, im Juli, nach Süden fuhren, langsam, ohne Ziel, die Lust spürend, die die Berührung der Welt auf der Haut erzeugt, hallte das Geräusch der Brücke als Echo am Steilhang wider. Dieses Geräusch muss uns Freude gemacht haben. Vielleicht haben wir unssogar angesehen und versucht, unsere Gefühle zu verbergen? War er damals schon da? Stand er hinter uns in diesem versifften Gang und zählte mit dem knöchernen Finger ab? Ene mene muh, und raus bist du? Ich weiß nicht. Vielleicht war er noch nicht da. Schließlich sind wir nicht von Anfang an sterblich. Damals waren wir es jedenfalls nicht. Und dann noch viele Jahre nicht. Zu diesen Jahren kehre ich jetzt zurück. Oder kommen sie auf mich zu? Mitten am Tag, mitten in einer Tätigkeit. Jene Tage. Als uns nichts passieren konnte.
    Im vorigen Sommer fuhren wir Richtung Przemyśl. In Bircza bog ich rechts ab, weil ich ihm Arłamów zeigen wollte. Auf dem Weg lagen umgesiedelte ukrainische Dörfer. Jamna Górna, Jamna Dolna. Auf dem Grund des flachen Tals floss ein Bach. Wo einst Häuser waren, standen sechzigjährige Bäume. Wir hielten an, um uns umzusehen. Er wirkte ein bisschen verloren. Er trippelte herum, ging dann wieder schneller, hierhin, dorthin, gebeugt, als suchte er etwas. Als wären wir hierhergekommen, um einen Gegenstand wiederzufinden, der ihm abhandengekommen war. Das Gespräch brach ab. Ich sahihm zu, wie er zwischen den Bäumen hin und her ging. Ich kenne ihn so wenig, dachte ich. Ich beschwöre alte Bilder, ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen. Weil es bequemer ist. Weil ich ihn nicht einholen, ihn nicht begleiten will. Ich sah ihm zu, wie er herumtrippelte, und wunderte mich, wie alt er war, obwohl er doch immer noch der Junge von 1977 war, von 1983, von 1991 oder 1992, als er mit einem vier Jahre alten roten Escort zu uns kam. Die ganze Zeit hatte ich das Gesicht von damals vor mir gesehen, unverändert all die Jahre, und erst jetzt, da uns das Schweigen trennte, legte die Zeit plötzlich los und beschleunigte wie ein Film, den man vorspult. Wir fuhren weiter und warfen nur einen flüchtigen Blick auf das armselige Arłamów, wo die Leute sechshundert Zloty für eine Nacht zahlten, um in den Betten zu schlafen, in denen Tito und Ceauşescu gelegen hatten. Ein Stück weiter war Kalwaria Pacławska, man musste es nur durchqueren und an der Kirche vorbeifahren, um auf einem Feldweg zu der Stelle zu gelangen, wo sich ein großartiger, weiter Blick auf die Ukraine bot. Von der Anhöhe aus konnte man bei gutem Wetter Dutzende von Kilometern weit sehen. Aber ich tat es nicht.Ich sah, dass er müde war. Dass er ab und zu einschlief, dann wieder vor sich hinstarrte, durch die Landschaft hindurch, durch die Hügel hindurch, die langen bewaldeten Bergrücken, die sich in

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