Kuss der Ewigkeit
Dinge ereigneten sich in etwas veränderter Reihenfolge. Der Mann redete mit jemandem, bevor er sie ansprach, doch Candice hatte dem keine Beachtung geschenkt, und ich konnte keine Gedanken oder eine Beschreibung dieser anderen Person abrufen.
Ich war allein am Tisch, als er mir einen Drink brachte. Nimm ihn nicht an. Ich nahm ihn an. Er zog die Lederjacke aus. Hübsches Tattoo … aber verunstaltet. Durch den großen Drachen, der seinen Schweif um das Handgelenk des Typen schlang, verliefen drei weiße Narben.
Ich drängte Candice’ Erinnerungen beiseite. Mit einem Mal war mir schlecht.
Diesen Drachen erkannte ich. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte ich ihn mit meinen Klauen aufgeschlitzt. Ich war von fünf Kerlen angegriffen worden. Ich verteidigte mich.
Es war das erste Mal, dass sich meine Krallen gezeigt hatten.
Ich schluckte heftig. Das hier– alles davon– war wirklich meine Schuld. Ich starrte ins Leere, während sich ein tauber Kloß in meinem Magen bildete. Kein clanloser Streuner, dem man die Schuld geben konnte.
Der gefährliche Einzelgänger war mein Fehler.
Mit Candice waren es wie viele? Dreizehn Opfer? Die Zahl legte sich wie ein schweres Gewicht auf mich. Heiße Tränen drohten, meinen Blick zu verschleiern. Ich blinzelte sie fort.
Konzentrieren. Ich musste mich konzentrieren. Ich rappelte mich aus dem Schnee hoch.
Der Angriff konnte nicht die Erinnerung sein, die Nathanial abgerufen hatte. Er hatte gesagt, ich hätte den Mann erst vor Kurzem gesehen. Nathanial hatte mich unmittelbar nach dem Rave gefunden. Ich versuchte, mich an jeden zu erinnern, den ich auf der Party gesehen hatte, doch die meisten davon verschwammen in einem Nebel. Der Mann in Candice’ Erinnerung war definitiv nicht der Mann, mit dem ich mich unterhalten hatte, und er sah auch nicht aus, wie einer von denen, die mich zum Tanzen aufgefordert hatten. Plötzlich traf es mich wie ein Blitz. Er hatte eine Mütze getragen und mir irgendeine Art von Drogen angeboten. Verdammt. Das verriet mir überhaupt nichts Neues über ihn. Er ging auf Raves– das wussten wir schon. Er vertickte Drogen. Dass er seine Opfer betäubte, war also beinahe folgerichtig.
Ich hatte sein Gesicht. Ich hatte seinen Geruch. Und ich wusste verdammt noch mal immer noch nicht das Geringste über ihn. Meine Nägel gruben kleine Halbmonde in meine Handflächen, als ich das Nathanial und Bobby erzählte. Auf ihren Gesichtern machte sich Bestürzung breit. Es waren keine guten Nachrichten. Es war nicht hilfreich.
» Also was jetzt?«, fragte Bobby.
» Ich habe dir doch von der Spur erzählt, über die ich heute Abend gestolpert bin? Der Schneesturm hat sie inzwischen wahrscheinlich zugedeckt, aber vielleicht ist sie der einzige Hinweis, der uns noch geblieben ist.«
Nathanial führte uns zur U-Bahn. Als wir aus dem Zug stiegen, waren wir wieder zurück in den Wohnsiedlungen. Der Schneesturm hatte sich gelegt, und ein grimmiges Schweigen hüllte uns ein, während wir uns auf den Weg zu der Seitenstraße machten, wo ich die Witterung des Stadt-Shifters zuvor aufgeschnappt hatte. Die heruntergekommenen Gebäude, an denen wir vorbeikamen, sahen für mich alle gleich aus, und ich hatte zuvor keine Straßenschilder gesehen, deshalb musste ich Nathanial vertrauen, dass das hier der Ort war, wo ich den Geruch wahrgenommen hatte. Jetzt gab es keine Spur mehr davon.
Hauptsächlich roch die Straße nach den kleinen Lagerfeuern, um die sich ein paar abgerissene Gestalten drängten, und dem überquellenden Müllcontainer, der sich an die Wand des Gebäudes zu unserer Rechten schmiegte. Bobby und ich suchten beide, doch keiner von uns konnte eine Spur aufnehmen, der wir folgen konnten. Während wir hartnäckig die Straße auf und ab liefen, kam mir der Gedanke, dass Bobby vielleicht gar nicht wusste, wonach er suchen sollte. Ich wusste aus Evans Erinnerungen, dass neue Jäger mehrere Monate damit verbrachten, den erfahrenen Jägern wie ein Schatten zu folgen, um alles über die Menschenwelt zu lernen und wie man einen Stadt-Shifter erkennt, doch Bobby war nur deshalb ein Jäger geworden, um mich zu finden. Wenn er die Spur nicht erkennen konnte, selbst wenn er mit der Nase darüberstolperte, dann hing es von mir ab, sie zu finden, doch meine Nase war nicht halb so gut, wie sie einmal gewesen war, und ich kämpfte gegen mehrere Stunden Schneefall. Ich blieb vor dem großen, metallenen Müllcontainer stehen und rammte die Faust dagegen.
» Verdammt,
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