Kuss der Sünde (German Edition)
Angestrengt schluckte sie und fasste ihre Mutter ins Auge. „Ich werde den Chevalier nicht heiraten. Ich will kein Leben führen, dass auf einer Lüge basiert. Ihre Ansichten sind abscheulich. Es ist eine widerliche, verlogene Doppelmoral, zu der ich niemals greifen werde. Niemals!“
Das Lachen der Marquise war humorlos und klang nach knirschenden Glassplittern. Stets hatte Viviane sie für eine oberflächliche und egoistische Person gehalten, die trotz ihrer Ignoranz etwas Liebenswertes an sich hatte. Doch sie war nicht oberflächlich und sie war nicht im Mindesten naiv. Sie war gleichwohl von einem Egoismus, der nun deutlich zutage trat. Viviane blickte in zwei Augen, die aussahen wie zwei blanke, blaue Kiesel. Ohne die geringste Empathie wurde sie gemustert. „Deine Erziehung und das Geld deines Vaters erlauben dir, von Moral zu reden und dich in romantischen Spinnereien zu versteigern. Mir und deinem Vater verdankst du es, dass du dich über andere aufschwingen kannst, um von deinem Sockel auf sie herabzublicken und von Doppelmoral zu reden.“
Vehement schüttelte sie den Kopf. So war es nicht. Marianne sprach weiter.
„Ich wuchs in einer Familie auf, in der es keinen Reichtum gab. Ich musste die abgelegten Kleider meiner älteren Schwestern tragen. Ich hatte sogar Löcher in den Schuhsohlen und befürchtete ständig, jemand könnte es bemerken. Der alte Name meiner Familie änderte nichts an den geflickten Kleidern, über die andere die Nase rümpften. Glaubst du wirklich, dass ein Mensch unter solchen Verhältnissen über moralische Aspekte seines Daseins nachdenkt? Ein hübsches Gesicht und eine annehmbare Figur ändern nichts an den Tatsachen. Jederzeit droht ein Stolperstein, der tiefer ins Elend führt.“
„Grandmère Claude ist nicht arm. Sie führt ein gutes Leben.“
„Oh sicher, nachdem ich deinen Vater heiratete, wurde der Familiensitz der Kerouac von Grund auf renoviert und durch monatliche Zuwendungen instand gehalten. Meine Mutter interessierte sich nie für Geld oder Titel, einzig der Wald liegt ihr am Herzen. Doch die Zeiten, da er unsere Heimat war, sind lange vorüber. Ich lebte in einer Einöde, ehe dein Vater mich nach Paris holte. Ich habe Enttäuschungen erlebt und Verzicht. Und ich habe mir geschworen, dass meinen Kindern alle Möglichkeiten offen stehen. Missachtung und Spott wird keines meiner Mädchen je kennenlernen. Du wirst heiraten und ein für dich angemessenes Leben führen. Dir steht Versailles offen, dir steht alles offen an der Seite von Casserolles. Das ist das für dich bestimmte Leben. Wenn es dir zusagt, es mit ständigem Lamentieren zu vergeuden, anstatt es zu genießen, so bleibt es dir überlassen. Auch wenn ich es bedauern würde.“
Es war entsetzlich, solche Worte aus dem Mund der eigenen Mutter zu vernehmen. Viviane machte es sprachlos. Das kleine, duftende Boudoir, in dem sie saßen, widerte sie an. Als Marianne sich erhob und zu ihr kam, glaubte sie, am Duft ihres Verbenenparfüms zu ersticken.
„Was immer du mit dem Rest deines Lebens anfangen wirst, Viviane, du wirst dich unseren Wünschen beugen und heiraten.“
Die Pläne für ihre Töchter waren auf Sand gebaut. Noch wusste sie nichts von Juliettes Schwangerschaft. Sie hatte ihre Töchter immer zu beeinflussen gesucht, nonchalant durch die Blume gesprochen und damit das gesagt, was sie nun unverblümt äußerte. Im Grunde war sie eine bedauernswerte Frau, ihre Schönheit ein Abglanz dessen, was sie einst gewesen war. Das diffuse Licht in ihrem Boudoir übertünchte die Falten um Augen und Mundwinkel. Wahrscheinlich nahm sie sich jetzt junge Liebhaber, um ihr Alter zu verleugnen. Sobald sie erfuhr, welche Früchte ihre Belehrungen bei Juliette getragen hatten, würde sich Verbitterung einstellen.
Viviane erhob sich. Da ihre Mutter weder eine Perücke trug noch ihr Haar mit Haarteilen um das Doppelte aufgebauscht hatte, überragte sie sie um einen Kopf. Marianne de Pompinelle war eine zierliche Frau, auf die sie ohne Mühe hinabblicken konnte.
„Ich bedaure, dass Sie zu diesen ehrlichen Worten greifen mussten, obwohl Sie mir die Augen öffneten, Mutter. Hingegen bedaure ich nicht, dass ich Sie enttäuschen werde. Sie können mich nicht zu einer Ehe zwingen. Sollten Sie es versuchen, werde ich mich Casserolles anvertrauen und ihm meinen Fehltritt eingestehen. Ich werde noch vor dem Altar das Jawort verweigern, sollte er nicht aus freien Stücken davon absehen, eine Frau zu heiraten, die ohne
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